Montag, 12. Oktober 2009

CD-Kritik: Brahms - 2. Symphonie / Berliner Philharmoniker / Rattle


© Gernot von Schultzendorff 2009

POST vom 12. 10. 2009


CD - Kritik

Brahms: Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 73 / Berliner Philharmoniker / Simon Rattle [aus der aktuellen Gesamtaufnahme der Symphonien]
EMI 2672542


Daran anknüpfende Themen:

  • Metrische Sogwirkung verleiht rätselhaften Passagen Sinn
  • Metrizität
  • Striktheit des Tempos versus Individualität einzelner Passagen
  • Große musikalische Bögen

Als Appetizer für den Video-Download bei der „Digital Concert Hall“-Plattform der Berliner Philharmoniker findet man bei YouTube folgendes Video mit dem Beginn des 4. Satzes der 2. Symphonie von Johannes Brahms.

URL: http://www.youtube.com/watch?v=4HXP90yzvrk


In vielerlei Hinsicht verweigert sich Rattles Interpretation tiefverwurzelten Hörerwartungen und setzt auf ein metrisch-rhythmisch sowie im Tempo strikt durchgehaltenes Konzept – mit teils (vor allem im Metrisch-Rhythmischen) großartigen, teils (vor allem was die Tempogestaltung des 1. und 3. Satzes angeht) aber auch weniger überzeugenden Ergebnissen.


Metrische Sogwirkung verleiht rätselhaften Passagen Sinn

So bekannt und vielgespielt sie auch sind (gerade dies mag der Grund sein), enthalten die Symphonien von Brahms eine Reihe von Passagen, deren eigentlicher interpretatorischer Sinn im Verlauf der auf Aufnahmen dokumentierten Interpretationsgeschichte meines Wissens nicht überzeugend erfasst und dargestellt zu sein scheint. Es ist geradezu eine interpretatorische Sensation, wie Rattle diese Passagen angeht und sie nicht enigmatisch erscheinen lässt, sondern ihnen eine völlig selbstverständlich wirkende musikalische Logik verleiht.

In der 2. Symphonie befinden sich solche Passagen vor allem im 2. Satz:

  • Auf die von den Celli vorgetragene Einleitung des 2. Satzes, die vom ganzen Orchester abgeschlossen wird, folgt [ab A] eine Passage, in der Terz- und Quartsprünge in gleichmäßigen Achteln mit synkopischen Sekund-Abwärtsbewegungen überlagert werden. Indem das einleitende Hornsolo durch geeignete Dehnungen einzelner Töne eine starke metrische Sogwirkung erzeugt, werden die Synkopen in den folgenden Takten in einem bislang unbekannten Maße hörbar und verständlich; diese sonst so abstrakt wirkende Stelle erstrahlt hier in großer lyrischer Schönheit.
  • Wenige Takte später, zu Beginn des 12/8-Taktes [bei B], dehnt Rattle die durch Pizzicati der Celli markierten Zählzeiten sehr stark, so dass die übergebundenen Noten der Holzbläser geradezu in die Zählzeiten hineinzufallen scheinen. Erst diese prononcierte, unmissverständliche Verdeutlichung des Metrums ermöglicht die außerordentliche Schönheit und Poesie in der Wiedergabe dieser Passage. Erneut wird bereits vor der kritischen Stelle eine starke metrische Sogwirkung erzeugt, wichtig ist an dieser Stelle auch, dass (entsprechend der Vorschrift „L`istesso tempo“) keinerlei Tempoänderung stattfindet.
  • Auch die Takte um E im 2. Satz, hier insbesondere die Achtel in den Bratschen und Celli, die durch die dominierenden Triolen in den 1. Violinen wie Duolen wirken, sowie den kurz darauf folgenden Übergang in den Takten 84 und 85, eine Variation der im ersten Absatz beschriebenen kompositorischen Konfiguration, habe ich noch nie mit einer so starken interpretatorischen Sinnhaftigkeit dargeboten gehört.


Metrizität

Die Variation der metrischen Wirkung in einer Musikwiedergabe ist ein in der musikinterpretatorischen Literatur durchaus vernachlässigtes Thema. In meiner bislang unveröffentlichten Arbeit „Das Metrum und die musikalische Zeit in der Darbietung von Musik“ (Abstract, Inhaltsverzeichnis und Vorwort sind über meiner Homepage zugänglich) benutze ich für die unterschiedlich starke Sogwirkung des Metrums auf den Hörer den in der Musik bislang nicht gebräuchlichen Begriff der Metrizität, diese bezeichnet „einen kaum messbaren, sehr wohl aber erfahrbaren Parameter der Musikwiedergabe. … Die ihn beeinflussende Spielweise bewegt sich auf dem Grat zwischen dem Verdeutlichen der metrischen Kräfte und ihrer Verschleierung, indem metrische Erwartungen beim Hörer in unterschiedlichem Maße geweckt und erfüllt werden.“


Striktheit des Tempos versus Individualität einzelner Passagen

Ganz anders, als es dem Hörer durch eine Vielzahl von Interpretationen anderer Dirigenten vertraut ist, setzt Rattle in weiten Teilen der hier besprochenen Aufnahme auf ein ausgesprochen striktes und strikt durchgehaltenes Tempo. Diese Herangehensweise scheint mir in gewissem Maße verwandt zu sein mit den sehr motorischen Brahms-Interpretationen Toscaninis (für meine Ohren zählen sie zu den gelungensten Aufnahmen dieses Dirigenten), wirkt aber noch strenger und, wenn man so will, lakonischer.

Die Vorteile sind ein weitgehendes Vermeiden von Pathos sowie von Dickheit, wie sie sonst oft durch Verbreiterungen des Tempos hervorgerufen wird, für mich besonders gelungen am Ende von langen forte-Passagen wie etwa im 4. Satz in den Takten vor N, die sonst leicht sogar etwas plump wirken können. Eine längerer Abschnitt, in dem diese Striktheit des Tempos der Komposition ganz besonders zu entsprechen scheint und den ich noch nie so überzeugend wie in dieser Aufnahme gehört habe, ist die 2. Hälfte der Exposition des 4. Satzes [vor allem zwischen den Buchstaben D und F].

Jedoch kommt es bei einer solchen Interpretationsweise auch leicht zu einem Mangel an Möglichkeiten für den Hörer, im Verlauf langer Zusammenhänge gelegentlich kurz Atem zu holen und einen verweilenden Blick auf einzelne Stellen zu werfen – aufgrund der meist abschnittsweisen Aufnahmeweise und der Schnitttechnik ist diese Wirkung bei Studioproduktionen wie den hier vorliegenden Aufnahmen oft noch wesentlich deutlicher ausgeprägt als in Konzerten. So käme dem Werk nach meiner Meinung vor allem im 1. und 3. Satz ein stärkeres Eingehen auf die Individualität einzelner Abschnitte unbedingt zugute. Zwar werden in diesen Sätzen die Vortragsvorschriften im Prinzip eingehalten, dabei häufig aber auch nur angedeutet, so dass es in Dynamik und im Tempo nur zu wenigen Extremen kommt und, wie ich finde, durch die Moderiertheit dieser Parameter die einzelnen Stellen als solche nur eine geringe Wirkung auf den Hörer entfalten können.


Große musikalische Bögen

Es ist wirklich erstaunlich und ungewöhnlich, einen wie großen Spannungsbogen Rattle vor allem im 1. Satz intensiv durchfühlen lässt – dieser musikalische Bogen umfasst den ganzen Satz. Seinen Höhepunkt legt Rattle auf das sforzato 4 Takte vor dem Beginn der Reprise [= 4 Takte vor Buchstabe J]. Das allerdings ist ein überraschend gewählter Punkt, mit dem ich mich bislang noch nicht recht anfreunden konnte, denn er fällt nicht mit dem dynamischen Höhepunkt zusammen, der sich, mit mehreren Takten fortissimo, bereits 12 Takte früher befindet.

In Zusammengehen mit der im vorigen Absatz beschriebenen Striktheit des Tempos entsteht dieser Spannungsbogen auf eine ungewöhnlich gleichmäßige Weise, die in ihrer Radikalität zweifellos wirkungsvoll ist. Die Zuhörer können sich der Unbedingtheit eines solchen interpretatorischen Ansatzes, den wir in jeweils etwas anderer Weise vom oben schon erwähnten späten Toscanini sowie, wenngleich nicht bei Brahms, von Pierre Boulez kennen, kaum entziehen. Aber es stellt sich gleichwohl die Frage, warum Rattle nicht auch ein paar andere Elemente einbaut, epische Ansätze verwendet, wo sie sich anbieten, und auf dem Weg zum Ziel zwar nicht gerade Umwege benutzt, so doch aber vielleicht den einen oder anderen Blick zur Seite riskiert.


Reduzierung ausdruckshafter Elemente

Dies würde dann vermutlich einige ausdruckshafte Elemente in die Interpretation hineinbringen, die in dieser Aufnahme doch etwas ins Abseits gedrängt erscheinen. Keineswegs möchte ich irgendeiner Sentimentalität das Wort reden, aber dem molto dolce am Schluss des 3. Satzes fehlt der Dolce-Charakter beinahe vollkommen, und das, nachdem die Berliner Philharmoniker den unmittelbar vorangehenden dolces weitgehend gerecht geworden sind.

Oder haben wir es, der Verdacht drängt sich auf, an dieser Stelle mit einer Kombination von Aufnahme-Takes zu tun, die von technischer Warte aus zusammen passen, musikalisch jedoch nicht zusammen gehören? Denn auch zu Beginn des 2. Satzes, und hier ist überdies der Schnitt in technischer Hinsicht nicht ganz gelungen, gibt es einen Ausdrucks-Bruch: nachdem die Celli das Eingangs-Thema mit großer Intensität vorgetragen haben, nehmen die Geigen es nur mit deutlich vermindertem Ausdruck wieder auf.

Donnerstag, 3. September 2009

Vereinbarung von Gegensätzen in der musikalischen Interpretation von Beethovens 9. Sinfonie und Schönbergs »Pierrot lunaire«

© Gernot von Schultzendorff 2009

POST vom 3. 9. 2009


Überblick:

A. Presto und Rezitativcharakter im 4. Satz von Beethovens 9. Sinfonie

  • Ingo Metzmacher: Deutscher Klang? Eine Ideologie!
  • Das Rezitativische in Aufnahmen von Erich Kleiber und René Leibowitz

B. Erkennbare Tonhöhe und Sprechgesang in Schönbergs »Pierrot lunaire«

  • Schönbergs Anweisungen für die Sprechstimme im »Pierrot lunaire«
  • Sprechstimme in modernen Aufnahmen
  • Schönbergs Wortwahl „unter guter Berücksichtigung“
  • Schönbergs eigene Aufnahme
  • Muss der Interpret auch analysieren?
  • Eigentümlichkeiten der Tonhöhe bei einer Sprechstimme
  • Aufnahmen mit Marianne Pousseur und dem Remix-Ensemble sowie Pierre Boulez


Einige berühmte Anweisungen von Komponisten zur Interpretation, in denen auf den ersten Blick miteinander unvereinbare Forderungen gestellt werden, die gleichzeitig in der Interpretation realisiert werden sollen, sind immer wieder Anlass zu Diskussionen und zur Positionierung im interpretatorischen Umfeld.

Es kann keine Lösung sein, sich für die Erfüllung nur einer der beiden Forderungen zu entscheiden und auf die Realisierung der jeweils anderen Forderung zu verzichten. Unkonventionelle Wege sollten dazu führen, dass sich die Forderungen letztendlich doch als miteinander vereinbar erweisen.


A. Presto und Rezitativcharakter im 4. Satz von Beethovens 9. Sinfonie

  • Ingo Metzmacher: Deutscher Klang? Eine Ideologie!

In seinem Beitrag Deutscher Klang? Eine Ideologie! in der Zeitschrift Crescendo vom 21.9.2007 schreibt der Dirigent Ingo Metzmacher:

„Jeder Dirigent kommt irgendwann an einen Punkt, an dem er sich entscheiden muss. Zum Beispiel im vierten Satz der 9. Sinfonie von Beethoven.

Dort steht [in Takt 9] in der Partitur “Selon le caractère d’un recitative, mais in tempo” (”Nach Art eines Rezitativs, aber im Tempo”). Was aber bedeutet das? Das angegebene Tempo ist ein “Presto”. Ich muss mich also entscheiden, ob ich das wörtlich nehme oder das Tempo so stark verlangsame, dass die Celli und die Bässe in aller Ruhe “rezitieren” können. Es kann hier nur eine Entscheidung für das Eine oder Andere geben, ein Mittelweg wäre ein billiger Kompromiss.“

Metzmacher geht es in seinem Artikel hauptsächlich um interpretatorische Haltungen und Klangtraditionen, mit Karajan, Furtwängler und Böhm auf der einen, Fritz Busch, Erich Kleiber und Klemperer auf der anderen Seite. Diese Diskussion soll hier nicht vertieft werden. Jedoch lesen sich die Sätze in Bezug auf Beethovens 9. Sinfonie so, als ob Metzmacher meint, der Dirigent müsse sich zwischen Presto und Rezitativ entscheiden, als ob also die gleichzeitige Erfüllung beider Forderungen Beethovens unmöglich wäre.

Natürlich hat Metzmacher recht darin, Kritik zu üben an Interpretationen, die an dieser Stelle von Beethovens 9. Sinfonie gleich nach dem Beginn des 4. Satzes das Tempo stark verlangsamen, um die Celli und Bässe in konventionellem rezitativischen Charakter spielen zu lassen. Beethovens Tempo-Forderung wäre ja nicht erfüllt. Aber genauso falsch wäre es doch offensichtlich auch, und das schreibt Metzmacher nicht, die Stelle in Presto-Tempo zu spielen und Beethovens Forderung des rezitativischen Charakters zu ignorieren.

  • Das Rezitativische in Aufnahmen von Erich Kleiber und René Leibowitz

Sollte es denn nicht möglich sein, rezitativische Elemente im Presto zu realisieren? In der Aufnahme Erich Kleibers (mit den Wiener Philharmonikern aus dem Jahre 1952) muss man als Hörer schon einigen guten Willen haben, um die Stelle als rezitativisch interpretiert anzusehen. Das Anfangstempo des Satzes jedoch wird auf jeden Fall beibehalten.

Eine wirklich plausible interpretatorische Verbindung von Presto und rezitativischem Charakter bietet für meine Ohren René Leibowitz in seiner legendären Aufnahme der Sinfonien Beethovens mit dem Royal Philharmonic Orchestra aus dem Jahr 1961: Hier ziehen zu Beginn dieser Stelle die Celli und Bässe das Tempo noch ein wenig an gegenüber dem Beginn des Satzes – das hat eine Wirkung wie Plappern, ist also unbedingt rezitativisch. Und am Schluss der Phrase wird das Tempo dann etwas zurückgenommen (das höhere Tempo zu Beginn der Phrase lässt Spielraum hierfür), so dass ein wenig Raum ist für Freiheiten, wie sie aus dem Bereich des Rezitativs bekannt sind. Am Schluss der folgenden Orchester-Phrase (T. 23-25), wo sich Celli und Bässe mit dem Rest des Orchesters kurz abwechseln, gelingt Leibowitz in dieser Abwechslung der Charakter von Rede und Gegenrede – auch dies ungemein rezitativischer als bei Kleiber.

Das Rezitativische ist gar nicht so sehr festgelegt auf ein langsames Tempo - es gibt ja auch schnelle Unterhaltungen; entscheidend sind vielmehr gewisse Unregelmäßigkeiten der zeitlichen Platzierung der Töne, die sich anlehnen an die Redeweise von Menschen und mit denen bestimmte rhetorische Wirkungen hervorgerufen werden. Einige weitere Anmerkungen zum Rezitativ befinden sich in meinem Post zu Vivaldis „La fida ninfa“.

[Ein Foto aus den Aufnahmesitzungen der Leibowitzschen Aufnahme finden Sie hier, ganz unten auf der verlinkten Seite. Die beiden beschriebenen Aufnahmen sind unter anderem bei Napster, auch im Rahmen einer Flatrate, zugänglich (die von Kleiber ist schwer zu finden: Erich Kleiber -> Alben -> Decca Recordings 1949-1955).]


B. Erkennbare Tonhöhe und Sprechgesang in Schönbergs »Pierrot lunaire«

In Byron`s Blog on Music, Performance and Research gibt Avior Byron in seinem Beitrag Evaluating Sprechstimme: What early Recordings tell us (mehr noch in seinem Draft eines vollständigen Artikels) einen sehr interessanten Überblick über die verschiedenen Meinungen von Interpreten und Kritikern zu Schönbergs Anweisungen bezüglich der Behandlung der Sprechstimme im »Pierrot lunaire« und analysiert den auf frühen Aufnahmen des Werkes dokumentierten Umgang der verschiedenen Sängerinnen mit diesem Werk.

  • Schönbergs Anweisungen für die Sprechstimme im »Pierrot lunaire«

Arnold Schönberg gibt in seinem „Vorwort“ zum »Pierrot lunaire« die folgenden Anweisungen für die Ausführung der Sprechstimme:

„Die in der Sprechstimme durch Noten angegebene Melodie ist (bis auf einzelne besonders bezeichnete Ausnahmen) nicht zum Singen bestimmt. Der Ausführende hat die Aufgabe, sie unter guter Berücksichtigung der vorgezeichneten Tonhöhen in eine Sprechmelodie umzuwandeln. Dies geschieht, indem er 1. den Rhythmus haarscharf so einhält, als ob er sänge, das heißt mit nicht mehr Freiheit, als er sich bei einer Gesangsmelodie gestatten dürfte; 2. sich des Unterschiedes zwischen Gesangston und Sprechton genau bewußt wird: der Gesangston hält die Tonhöhe unabänderlich fest, der Sprechton gibt sie zwar an, verläßt sie aber durch Fallen oder Steigen sofort wieder …“.

  • Sprechstimme in modernen Aufnahmen

Leider sind mir die von Avior Byron genannten und beschriebenen frühen Aufnahmen des »Pierrot lunaire« (unter der Leitung von Schönberg, 2x Leibowitz und Rosbaud) derzeit nicht zugänglich. Bei Napster und bei YouTube kann man jedoch eine Vielzahl von neueren Aufnahmen hören.

Es ist dabei wirklich erstaunlich, mit welcher Übereinstimmung sich fast alle Interpreten über Schönbergs ausdrückliche Forderung einer Sprechstimme („nicht zum Singen bestimmt“) hinwegsetzen. Schönbergs Anweisung des „Fallens[s] oder Steigen[s]“ der Tonhöhe wird immer umgesetzt, aber weitgehend eben nicht im Rahmen einer Sprechstimme, sondern eines Gesangstons und mit einem entsprechend anderen Charakter; so als ob man seine Anweisungen dahingehend missverstehen dürfte, dass ein Gesangston durch Fallen oder Steigen zum Sprechton würde.

  • Schönbergs Wortwahl „unter guter Berücksichtigung“

Arnold Schönberg hat seine Anweisungen mit einer bemerkenswerten Präzision formuliert, sie werden aber unter anderem von Milhaud und Boulez als rätselhaft bezeichnet. Möglicherweise ist Schönbergs Wortwahl „unter guter Berücksichtigung der vorgezeichneten Tonhöhen“ hierfür ein Grund, denn sie kann leicht missverstanden werden: nach meinem Sprachverständnis bedeutet „unter guter Berücksichtigung“ im deutschen Sprachgebrauch, anders als der eigentliche Wortsinn es nahelegen würde, dass die Einhaltung der in der Partitur vorgegebenen Tonhöhen zwar nicht unwichtig, anderen Aspekten der Interpretation jedoch untergeordnet ist.

  • Schönbergs eigene Aufnahme

Eine solche untergeordnete Beachtung der Tonhöhen ist nach übereinstimmender Beschreibung verschiedener Quellen eines der wesentlichen Charakteristika der von Schönberg geleiteten Aufnahme des Werkes mit der Sängerin Erika Stiedry-Wagner aus dem Jahr 1940. Bislang hat diese Aufnahme keine auktoriale, den Intentionen des Komponisten entsprechende Aufführungstradition hervorrufen können, stattdessen wird immer wieder in Zweifel gezogen, dass sie Schönbergs Intentionen tatsächlich entsprach. Über das 2008 erschienene Buch Sprechstimme in Arnold Schoenberg's Pierrot lunaire: A Study of Vocal Performance Practice berichtet Avior Byron: „[the author] Aidan Soder suggested that Schoenberg did not have enough rehearsal time and that the final product on Schoenberg’s recording is perhaps not how he heard it in his ear’ “. Das erscheint jedoch wenig überzeugend angesichts der vielen Aufführungen, in denen Stiedry-Wagner zuvor mit dem Werk aufgetreten war, und auch angesichts eines Briefes Schönbergs an den Dirigenten Hans Rosbaud im Jahr 1949, in dem er sich zwar über die Balance in seiner eigenen Aufnahme, nicht jedoch über die Beachtung der Tonhöhen unzufrieden zeigt.

  • Muss der Interpret auch analysieren?

In mehreren von Avior Byron zitierten Äußerungen wird die Beachtung der Tonhöhen mit den unterschiedlichsten Begründungen als wesentlich bezeichnet. Byron fühlt sich dabei u.a. an „Eugene Narmour’s unfortunate claim that ‘many negative consequences’ will occur ‘if formal relations are not properly analyzed by the performer’ “ erinnert. Narmours Forderung steht in offenkundigem Gegensatz zu Erklärungen von Berg und Webern, die ein solches Wissen als nur für den Komponisten wesentlich bezeichneten (bezüglich Webern siehe meinen Beitrag in einem älteren Post im Abschnitt über „Webern: Variationen op. 27). Ob es auch Zeugnisse Schönbergs zu dieser Thematik gibt, müsste am ehesten Avior Byron wissen, der an der Herausgabe bisher nicht veröffentlichter Schriften Schönbergs beteiligt ist.

  • Eigentümlichkeiten der Tonhöhe bei einer Sprechstimme

Es ist aufschlussreich, die Thematik der Tonhöhe einer Sprechstimme noch etwas zu vertiefen. Es handelt sich dabei um eine in sehr eigentümlicher Weise wahrnehmbare, technisch durchaus messbare Tonhöhe, der im Gegensatz zum Gesang der eigentliche Klang, die Resonanz fehlt. Sobald man beim Sprechen sich dieser Tonhöhe vergewissern will, ja überhaupt versucht herauszufinden, in welcher Tonhöhe man gerade gesprochen hat, kippt das Sprechen um in Richtung Singen. Insofern dürfte das eigentliche Problem bei der Interpretation der Sprechstimme in Schönbergs Sinne eben diese fehlende körperliche Rückkopplung bei den Tonhöhen sein. Wahrscheinlich bedarf es jahrelanger Übung, um die Fertigkeit, beim Sprechen eine bestimmte Tonhöhe zu treffen, zu beherrschen. Es wäre interessant zu erfahren, ob Sängern mit absolutem Gehör diese Fertigkeit leichter fällt als Sängern ohne das absolute Gehör.

Zudem scheint mir, als werde eine solche Tonhöhe beim normalen Sprechen im Deutschen etwas länger ausgehalten als etwa im Englischen und im Französischen; in diesen Sprachen ist der Anteil des Fallens und Steigens vermutlich noch größer als im Deutschen. Es ist von daher nicht verwunderlich, dass es mit Milhaud und Boulez keine deutschsprachigen Komponisten sind, die den Topos vom „Sprechstimme Enigma“ geprägt haben.

  • Aufnahmen mit Marianne Pousseur und dem Remix-Ensemble sowie Pierre Boulez

Von den aktuellen Aufnahmen scheint mir diejenige mit Marianne Pousseur und dem Remix-Ensemble Schönbergs Vorstellungen von der Sprechstimme am nächsten zu kommen. Leider ist in dieser Aufnahme die Balance wenig geglückt, die Sprechstimme ist entschieden zu leise. Hat man sich etwa von Schönbergs Aufnahme aus dem Jahr 1940 leiten lassen? Das wäre bedauerlich, denn von der Balance in seiner eigenen Aufnahme hat sich Schönberg in seinem Brief an Rosbaud im Jahre 1949 distanziert.

Auch Pierre Boulez hat »Pierrot lunaire« mit Marianne Pousseur eindrucksvoll aufgeführt, ich vermute dass er die "Sprechstimme"-Thematik nicht mehr so rätselhaft findet wie in den 60er Jahren. 2 der Stücke gibt es auf dem folgenden YouTube-Video zu hören und zu sehen.:

http://www.youtube.com/watch?v=UA5kC4QORtE

Montag, 24. August 2009

CD-Kritik: Prokofiev 3. Klavierkonzert - Kissin/Philharmonia Orchestra/Ashkenazy


© Gernot von Schultzendorff 2009

POST vom 24. 8. 2009


CD - Kritik

Prokofiev Klavierkonzerte [Nr. 2 g-moll op. 16 und] Nr. 3 C-Dur op. 26 – Yevgeni Kissin / Philharmonia Orchestra London / Vladimir Ashkenazy
EMI 2645362



Vergleichsaufnahmen 3. Konzert [diese beiden Aufnahmen sind mit dem 1. Klavierkonzert Prokofievs gekoppelt]:

Daran anknüpfende Themen:

  • Idiomatik versus Struktur
  • Punktuell besonders gelungener Klang
  • Prokofievs Kompositionen, Filmmusik und deren Interpretationsweise
  • Die Wirkungsmacht subtiler Tempoveränderungen
Evgeny (oder Yevgeny) Kissin hat das als pianistisch sehr anspruchsvoll geltende 3. Klavierkonzert Prokofievs häufig in seiner Karriere gespielt, von einer frühen Aufnahme aus seiner Wunderkind-Zeit (wie jung ist er da, siehe die Sequenz bei 4’28“!) gibt es die ersten 5 Minuten des 1. Satzes als faszinierendes Video bei Youtube.

URL: http://www.youtube.com/watch?v=hD8p1MOMlic


Idiomatik versus Struktur (Ashkenazy versus Abbado)

Es ist interessant, die beiden CD-Aufnahmen des 3. Klavierkonzert, die Kissin im Abstand von 15 Jahren eingespielt hat, miteinander zu vergleichen. Die im Zusammenspiel mit dem ebenfalls russischen Dirigenten Ashkenazy sehr viel deutlichere Idiomatik (die „russische Seele“) nimmt den Hörer unmittelbar für die neuere Aufnahme ein, ebenso die häufig sehr temperamentvolle Spielweise. Aber nicht alle interpretatorischen Herausforderungen wirken restlos gelöst, die Idiomatik scheint gelegentlich (vor allem im 3. Satz) etwas übertrieben, der Übergang vom 2. zum 3. Satz wirkt sehr schnell, ebenso wie einige Übergänge innerhalb der Sätze. Insbesondere Ashkenazy reizt die idiomatischen und spielerischen Aspekte des Stückes so weit aus, dass dem Hörer andere Perspektiven etwas zu wenig beachtet vorkommen können.

So stellt die Spielweise der Berliner Philharmoniker unter Abbados Leitung, die auf eine ganz selbstverständliche Weise die großflächige und die feinere Struktur des Werkes als einen der interpretatorischen Ausgangspunkte behandelt, in wesentlich stärkerem Maße den Eindruck eines „klassischen“ Stückes her. Was hier zum Tragen kommt, ist dieses schwer zu beschreibende Gefühl des Hörers, dass sich verschiedene Teile der Sätze strukturell aufeinander beziehen, und dass, merklich durch winzige Unterteilungen, eine Phrase auch in der Aufeinander-Bezüglichkeit ihrer einzelnen Elemente dargestellt wird; ein interpretatorisches Element, das, wie man auf Aufnahmen gut verfolgen kann, in Interpretationen der letzten Jahrzehnte generell eine sehr viel größere Rolle spielt als in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts.


Punktuell besonders gelungener Klang

Der Klang der neuen Aufnahme bewegt sich auf sehr hohem Niveau, es ist jedoch auffällig, dass einzelne Stellen ganz besonders gut gelungen sind – beispielsweise der allererste Anfang und die Stelle bei 9’ im 2. Satz. Eine solche Wirkung kann leicht zu Tage treten aufgrund einer Verfahrensweise bei der Nachbearbeitung einer Aufnahme, bei der man die während der Aufnahme bereits erstellte 2-Spur-Mischung weitgehend übernimmt und nur einzelne, meist von den Künstlern benannte Stellen mit besonderer Sorgfalt von den ebenfalls aufgenommenen und geschnittenen Multitrack-Spuren erneut abmischt. So gewinnt der aufmerksame Hörer eventuell eine Ahnung davon, wie gut die gesamte Aufnahme klingen könnte, wenn man nicht nur einzelne Stellen, sondern alles noch einmal neu abgemischt hätte. Nicht immer freilich ist eine komplette Neuabmischung eine Garantie für besseres Gelingen – der Vorteil einer Livemischung kann auch eine größere Einheitlichkeit sein.


Prokofievs Kompositionen, Filmmusik und deren Interpretationsweise

Nicht nur hat Prokofiev neben seinen Werken für die Oper und den Konzertsaal auch eine beträchtliche Menge an eigener Filmmusik geschrieben – sein Kompositionsstil, häufig auch einzelne Details seiner Kompositionen sind in größerem Umfang von anderen Filmmusik-Komponisten imitiert, wenn nicht gar kopiert worden.

Die meist punktuell bestimmten Filmszenen dienende Rolle von Filmmusik bedingt auch einen deutlich anderen Interpretationsstil als bei einer nur im Konzertsaal beheimateten Musik. Bei dem Komponisten Prokofiev kann sich das durchaus vermischen, und während man bei der Aufnahme mit Abbado von Filmmusik wenig wahrnimmt, setzt Ashenazy sehr viel deutlicher auf diese Komponente. Die Spielweise vieler Passagen hat bei ihm neben dem Charakter der absoluten Musik auch einen plakativen Charakter, und Stellen, die auf den Effekt hin komponiert zu sein scheinen, bekommen diesen Effekt interpretatorisch auch uneingeschränkt zugestanden; in einer sehr beeindruckenden, manchmal aber, in dem Kontext des sonstigen Interpretationsstils, auch fast schon übertriebenen Weise.

Ein Betrachter des oben in diesem Post eingebundenen YouTube-Videos macht in seinem Kommentar aufmerksam auf die Aufnahme 3. Klavierkonzertes mit Gary Graffman und dem Cleveland Orchestra unter George Szell. Diese, aus einer Zeit (1966) stammend, da solche Art von Filmmusik noch in großem Umfang komponiert und von den Orchestern eingespielt wurde, behandelt, mit größter Konsequenz und Virtuosität, das gesamte Konzert wie Filmmusik. Es wird anhand dieser eindrucksvollen Aufnahme besonders deutlich, wie sehr Prokofiev zwischen den Welten steht und dass er gewissermaßen für die Filmmusik fast zu gut, für die Konzertmusik hingegen ungewöhnlich effektvoll komponiert hat.


Die Wirkungsmacht subtiler Tempoveränderungen

Was die Aufnahme mit Graffman aber besonders weit über die normalen künstlerischen Ambitionen von Filmmusik heraushebt, ist ihr herausragender Umgang mit einem interpretatorischen Kunstmittel, dessen zentrale Rolle für die angemessene Interpretation sehr vieler Kompositionen meines Erachtens keineswegs immer gebührend gewürdigt wird.

In dem Abschnitt „Tempomodifikationen als Differenzierungsmittel“ meines Posts „Nikischs Interpretation des 1. Satzes von Beethovens 5. Symphonie“ werden vorrangig große und deutliche Tempoveränderungen untersucht, die Nikisch äußerst souverän, mit einer von späteren Interpreten nicht wieder erreichten Virtuosität und gleichzeitig Musikalität zum zentralen Gestaltungsmittel seiner Interpretation macht. Die Kunst der interpretatorischen Differenzierung mittels kleiner, eher unauffälliger Tempoveränderungen in Momenten bestimmter Motiv-, Themen- oder Harmoniewechsel hingegen ist eine viel dezentere. In vielen Fällen vermag aber nur sie dem Verlauf eines Stückes die notwendigen subtilen Perspektiv- oder Beleuchtungsmodifikationen zu verleihen, mit denen sichergestellt werden kann, dass bestimmte Veränderungen in der kompositorischen Struktur (formaler wie harmonischer Art) vom Hörer nicht nur gehört, sondern auch wahrgenommen werden, ohne dass ihre Wirkung gleich gewissermaßen die eines „an die große Glocke Hängens“ ist.

Aus umgekehrter Sichtweise ist es durchaus so, dass bestimmte Stellen in Kompositionen derartige Tempoveränderungen geradezu zwingend erfordern und man von einem „Überspielen“ oder auch „Verschenken“ der betreffenden Stelle sprechen kann, wenn eben eine solche Tempomodifikation vom Interpreten nicht realisiert, wenn der „Sinn“ der betreffenden Stelle vom Interpreten nicht dargestellt wird.

Graffmann und Szell nun erweisen sich als ausgesprochene Meister dieses Darstellungsmittels, in Verbindung mit ihrem stilsicheren Umgang mit Tempozurücknahmen an den richtigen Stellen gestalten sie dieses Werk in einer äußerst wirkungsvollen, dabei stets angemessenen Weise. - Angesichts dieser vorliegenden Interpretationen vor die Wahl für die klassische, die idiomatische oder die kineastische Variante gestellt, würde ich alle Aufnahmen sehr hoch einschätzen, mich vermutlich aber für die effektvolle, letztgenannte Aufnahme entscheiden.


[Der Verfasser war Tonmeister der Aufnahme mit Kissin und Abbado und hat mit Gary Graffman das Parergon zur Symphonia Domestica von Richard Strauss aufgenommen.

Graffman erkrankte auf dem Höhepunkt seiner Karriere an einer Musikerdystonie, die ihm das weitere Spiel mit der rechten Hand unmöglich machte. Ein noch etwas bekannterer Künstler mit dieser Krankheit ist der Pianist Leon Fleisher – diesem gelang es nach vielen Jahren, die Dystonie zu überwinden. Die Musikerdystonie wird ausführlich beschrieben in Kapitel 22 von Oliver Sacks sehr bemerkenswertem Buch „Der einarmige Pianist“.]

Montag, 17. August 2009

CD-Kritik: Vivaldi - La fida ninfa / Ensemble Matheus


© Gernot von Schultzendorff 2009

POST vom 17. 8. 2009


CD - Kritik

Vivaldi: La fida ninfa / Jaroussky, Cangemi, Lemieux, Regazzo, Piau, Lehtipuu, Mingardo, Senn / Ensemble Matheus / Jean-Christophe Spinosi

Naive OP 30410


Daran anknüpfende Themen:

  • Individualität in der Musizierweise von Solisten und Ensembles
  • Stiefkind Rezitativ?
  • Lebendigkeit in Studioaufnahmen


In einigen Jahren, im historischen Rückblick, dürfte das Ensemble Matheus als besonders wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der Interpretationskunst im Bereich der Barockmusik betrachtet werden. Die wichtigsten Impulse der historischen Aufführungspraxis der letzten Jahrzehnte werden zusammengefasst und mit einer atemberaubenden Lebendigkeit sowie höchster Musikalität zur Darbietung gebracht.

Folgendes YouTube Video des Duetts „Dimmi pastore“ mag, trotz des eigentlich unbefriedigenden Klanges, Interessierte auf den Geschmack bringen, und auch eine Vorstellung von den ergänzenden darstellerischen Möglichkeiten bei einer Aufführung geben, die dem reinen Audio naturgemäß verschlossen sind:

Link zum YouTube-Video


Individualität in der Musizierweise von Solisten und Ensembles

Lebendigkeit und individuelle Zeichnung der Musik sind Felder der musikalischen Interpretation, bei denen, allgemein betrachtet, Solisten (Instrumentalisten und Sänger) meist deutlich mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen als einem naturgemäß eher schwerfälligeren Ensemble. In einer guten Interpretation allerdings wird beim Zusammenspiel stets darauf geachtet werden, dass die auf diese Weise entstehende Diskrepanz ein gewisses Maß der Auffälligkeit nicht überschreitet.

Bei dem so lebendig spielenden und individuell zeichnenden Ensemble Matheus nun sind die Verhältnisse etwas anders. Für meine Ohren und meinen Geschmack sind von den Solisten der famose und so hintergründige Philippe Jaroussky und die großartige Verónica Cangemi noch ausdrucksstärker und reaktionsschneller als das Ensemble Matheus; die übrigen Sängerinnen und Sänger bieten eine sehr bemerkenswerte Leistung, die an musikalischer Lebendigkeit vom Ensemble Matheus jedoch noch übertroffen wird.

Nun mag dies fast nach einem Wettstreit zwischen den beteiligten Musikern klingen, davon jedoch kann in keiner Weise die Rede sein und das eben Dargelegte dient lediglich zur genaueren musikalischen Charakterisierung der Darbietung. Tatsächlich ist gerade das Zusammen-Musizieren und die Ensembleleistung ganz besonders hervorzuheben. Diese Aufnahme realisiert einen Grad der musikalischen und klanglichen Umsetzung des Notentextes, den man gemeinhin kongenial nennt, und stellt einen besonderen Glücksfall der Aufnahmekunst dar.

Einige kleine Anmerkungen sollten dennoch erlaubt sein:
Die klangliche Umsetzung dieser Aufnahme bewegt sich auf sehr hohem, der Interpretation angemessenem Niveau. Vielleicht wären der Verzicht auf ein letztes Quentchen des recht üppigen Halls und eine etwas weniger starke Betonung der an Raumresonanzen reichen Tiefen allerdings musikalisch noch überzeugender gewesen; bezüglich der Balance scheint mir das Cembalo gelegentlich erstaunlich leise geraten zu sein. In dem Duett „Dimmi pastore“ kann sich Marie-Nicole Lemieux nicht so gut durchsetzen wie Philippe Laroussky, die Balance im YouTube-Video (trotz der sonstigen Begrenztheit des Klanges) funktioniert in dieser Beziehung überzeugender.


Stiefkind Rezitativ?

So erfreulich die Weiterentwicklung der historischen Aufführungspraxis im Allgemeinen ist, scheint, seit es Aufnahmen gibt, die Kunst des Rezitativs sich der musikalischen Überzeugungskraft von Arien nicht wirklich annähern zu können. Was die hier besprochene Aufnahme anbelangt, leisten in den Rezitativen erneut Jaroussky und Cangemi Außerordentliches, ihre enorme Flexibilität und intensive Charakterisierungsfähigkeit auf kleinstem Raum lässt fast keine Wünsche mehr übrig. Bei einigen anderen Rezitativen jedoch kommt die musikalische Ausdruckskunst nicht ganz an die der jeweils folgenden Arien heran; Rezitative laufen ja stets Gefahr, nicht mit der Aufmerksamkeit behandelt zu werden, wie sie den Arien zuteil wird. Bei dieser Art von Oper jedoch machen die Rezitative ungefähr die Hälfte der Gesamtspielzeit aus und benötigen in einer reinen Audio-Aufnahme, die ohne das visuelle Element auskommen muss, ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und Deutlichkeit, ja eigentlich Überdeutlichkeit.

Das ist bei dieser Aufnahme natürlich eine Anmerkung, die sich auf ein allgemein äußerst hohes musikalisches Niveau bezieht, es gibt hier keine nicht gelungenen Passagen, und man wird als Hörer der gesamten Aufnahme keinesfalls versucht sein, einzelne Rezitative zu überspringen, um etwa ohne Rezitativ gleich die nächste Arie zu hören.


Lebendigkeit in Studioaufnahmen

So kann man nur staunen über die hohe Lebendigkeit, die hier erreicht wird und der man sonst meist nur bei besonders geglückten Konzerten begegnet. Normalerweise springt bei Aufnahmen, insbesondere bei Studio-Produktion, der musikalische Funke nur sehr selten in diesem bemerkenswerten Maße über – das Publikum muss hier von den Musikern ja imaginiert werden, und es muss trotz der Abwesenheit eines Publikums gelingen, sich von allen Gedanken an die zu bewältigenden technischen Probleme frei zu machen.

Dabei übertrifft das Ensemble Matheus bei seinen Konzerten offenbar noch die auf den Aufnahmen erreichte Lebendigkeit, ohne dass erwähnenswerte oder gar bedauerliche Einbußen bei der Perfektion zu beobachten wären, anders als die eher seltenen Fälle von Musikern und Ensembles, die sich im Schutz des Studios eigentlich wohler fühlen als in Konzerten, so dass deren auf Aufnahmen realisierte Leistungen in Konzerten dann nur selten auf entsprechendem Niveau reproduziert werden können.

Sonntag, 19. Juli 2009

Erschütterung und Inniglichkeit beim Hören von Musik

© Gernot von Schultzendorff 2009

POST vom 19. 7. 2009

Erschütterung und Inniglichkeit beim Hören von Musik


Übersicht:

taz-Artikel über Holger Schäfer (Minnesänger)
Videos
Erschütterung durch Musik
Vorstufe der Erschütterung: Das Berührt-Sein
„Inneres Verstehen“ der Musik
Unsagbarkeit – Qualia
Innerlichkeit
Inspiration
Resümee

In einem Porträt des Minnesängers Holger Schäfer in der taz spricht dieser der klassischen Musik das durch „innig[es] Musik machen“ entstehende „innerliche Erschüttert-Sein“ ab, „so etwas gebe es […] höchstens bei Chören, im Folk und natürlich beim Minnesang.“

Dieser Blog-Beitrag stellt den taz-Artikel illustrierende Youtube-Videos vor, gibt einen Überblick über im Zusammenhang mit Inniglichkeit und Erschüttert-Sein wichtige Themen und Begriffe und macht Vorschläge zu einer Kategorisierung dieser Begriffe.


taz-Artikel über Holger Schäfer (Minnesänger)

aus „Das Ziel ist absolute Innigkeit“ – Porträt Holger Schäfers von Tim Meyer in der taz Nord vom 16.7.2009, S. 27 (http://www.taz.de/regional/nord/nord-aktuell/artikel/1/das-ziel-ist-absolute-innigkeit/):

Holger Schäfer greift sich seinen Laptop, ruft Youtube auf und sucht ein Video des Freiburgerr Barockorchesters: „Brandenburg Concertos No.4 – i: Allegro“ von Bach. Perfekt gespielt, aber die Gesichter sehen kühl aus. „So könnte ich mich auch hinstellen und spielen“, sagt er. „Aber das innerliche Erschüttert-Sein, das gibt es hier nicht. Alles ist durchgestylt.“

Dann holt er wieder das Blatt Papier, malt zwei Gruppen mit kleinen Kreisen: „Das sind die Musiker, das ist das Publikum“ Er beschreibt, was passiert, wenn sich Musiker auf ihr Profil, auf sich alleine, konzentrieren. Dann sind sie für sich und faszinieren das Publikum mit ihrem Können. Wenn sie dagegen innig Musik machen würden, könnten sie gemeinsam mit dem Publikum zu einer Einheit verschmelzen. „So entsteht ein Kraftfeld, ein Wir“, sagt Holger Schäfer. Aber so etwas gebe es nicht in der klassischen Musik, sondern höchstens bei Chören, im Folk und natürlich beim Minnesang.

Das ist das Ziel von Holger Schäfer beim Musikmachen: Das Profil, die Konzentration auf die Intonation eines einzelnen Tons, immer weniger wichtig zu nehmen, es geschehen zu lassen und in der Innigkeit aufzugehen. Er nennt es „Spiritualität“.

Videos

1. Das Video, auf das sich Holger Schäfer bezieht:

J. S. Bach: Brandenburgisches Konzert Nr. 4, 1. Satz – Allegro mit dem Freiburger Barockorchester

URL: http://www.youtube.com/watch?v=MDrLX7FXba4

Dieses Video leidet in seiner Youtube-Version unter einem gewaltigen Versatz (mehr als eine halbe Sekunde) zwischen Audio und Video, so dass der Betrachter keine musikalische Korrelation zwischen den Bewegungen und der Musik mehr herstellen kann. Es handelt sich ansonsten um eine typische, durchaus hochklassige „Studio“-Video-Produktion, bei der vermutlich das Audio mit einer Reihe von Schnitten zur gewünschten Perfektion gebracht wurde.

2. Dass auch in der klassischen Musik wesentlich lebendigere und faszinierendere Darbietungen möglich sind, zeigt dieses Video:

G. Ph. Telemann: Konzert für Blockflöte, Traverso und Orchester, TWV 52:e1 mit dem Ensemble Matheus

URL: http://www.youtube.com/watch?v=ipdSzDfhJA4

Das Video ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Herstellung von Lebendigkeit bei der Wiedergabe von Musik den Musikern in der Live-Situation oft leichter fällt. Vielen Dank an Avior Byron, der mich in seinem Blog auf dieses Video aufmerksam machte.

3. Von Holger Schäfer existiert bei Youtube keine zusammenhängende Aufnahme, nur ein Kurzporträt sowie 2 Berichte über den Minnersänger-Wettstreit 2008 in Clingenburg, aus dem er als „Minnesänger des Jahres 2008“ hervorging.

3.a. Videoporträt Holger Schäfer

URL: http://www.youtube.com/watch?v=XCcpisyxJw0

3.b. Minnesängerwettstreit 2008 in Clingenburg

URL: http://www.youtube.com/watch?v=grSnnoUXQH0

URL: http://www.youtube.com/watch?v=8DMU0bwPDfI

(Eine Einbettung in das Blog ist leider nicht möglich)

Erschütterung durch Musik

Holger Schäfer spricht sicher einen charakteristischen, manche würden vielleicht sogar sagen: wunden Punkt in der Musikpraxis der klassischen Musik an, wenn er sagt, das innerliche Erschüttert-Sein gebe es in der klassischen Musik nicht. Ganz recht hat er damit sicherlich nicht; wer etwa in ihrer besten Zeit Maria Callas erleben konnte, war gewiss erschüttert von ihren Darbietungen (eine Ahnung davon vermittelt das Video http://www.youtube.com/watch?v=tmN8YT9Avg4). Aber der Callas in der Tiefe und Intensität ihrer Darstellung und ihres Gesangs wirklich vergleichbare Künstler gibt es derzeit nicht, und bereits ihre zahlreichen Studioaufnahmen beindrucken zwar durch Intensität und Perfektion, gehen dem Hörer jedoch nicht wirklich nahe.

Vorstufe der Erschütterung: Das Berührt-Werden

Jedoch gehen wir als Besucher von Konzerten zwar nicht immer, aber doch häufig oder zumindest gelegentlich innerlich erfüllt nach Hause, und das heißt dann letztlich, dass wir von den musikalischen Darbietungen zwar wohl nicht erschüttert, aber doch berührt wurden. Das kann verschiedene Ursachen haben, auch Lebendigkeit, Perfektion und Virtuosität können nicht nur beeindrucken, sondern den hierfür empfänglichen Hörer berühren (wenngleich sicher nicht erschüttern). Wichtiger jedoch für das Berührt-Werden aber ist eine im Grunde nicht beschreibbare Qualität der Darbietung, die in starkem Maße von der Fähigkeit der Künstler abhängt, einerseits tief in die Musik einzudringen, andererseits dieses eigene Eindringen in die Musik in der Darbietung selbst umzusetzen und es dadurch den Hörern zu vermitteln.

„Inneres Verstehen“ der Musik

Sehr hilfreich für das Verständnis der hieran beteiligten Vorgänge scheint mir der vom Dirigenten Paavo Järvi gebrauchte Begriff des „inneren Verstehens“ von Musik zu sein. Järvi berichtet über die Unterschiede zwischen den beiden von ihm geleiteten Orchestern in Frankfurt und Cincinatti: „ Was ich hier in Frankfurt lerne, möchte ich in Cincinnati zur Anwendung bringen und umgekehrt. Dem deutschen Orchester fehlt manchmal die letzte Spur Brillanz, aber die Musiker haben mehr von dem, was ich »inneres Verstehen« nennen möchte. In Amerika sieht das Problem dagegen genau anders herum aus“ (http://www.musicincincinnati.com/site/news/Mile_High_Paavo_Brings_Cincinnati_Symphony_to_Frankfurt.html).

Unsagbarkeit - Qualia

Um welche vom Hörer wahrnehmbare Qualitäten wird die musikalische Darbietung bereichert in einer vom „inneren Verstehen“ der Musiker geprägten Interpretation? Wie oben schon angesprochen entziehen sich diese Vorgänge weitgehend der Beschreibung, es ist deshalb in der Literatur gelegentlich die Rede von dem „Topos der Unsagbarkeit“ (engl.: „ineffability“). Die Objekte des Unsagbaren werden als „Qualia“ bezeichnet und sind Gegenstand einiger Untersuchungen. „Quales are those qualities of immediate human experience which cannot be conceptualized and are of private, individual, irreproducible and antilexical nature, such as colors, sounds, hunger, anger, sadness, or happiness. Raffman [in Raffman, D.: Language, Music and Mind, 1993] argues that musical experience is strongly related to quales and therefore shares strongly ineffable characteristics” (Mazzola, G.: The topos of music: geometric logic of concepts, theory and performance, Basel 2002, S. 693).

Innerlichkeit

Das Vorhandensein „unsagbarer“ Qualitäten in einer Musikdarbietung also scheint eine wichtige Voraussetzung zu sein dafür, dass die Hörer innerlich berührt werden können von der Interpretation. Soll es aber zu einer Intensivierung dieser innerlichen Berührung kommen, muss darüber hinaus das hinzutreten, was Holger Schäfer mit dem Begriff „Innerlichkeit“ mit ins Spiel bringt, es muss beim Hörer der Eindruck entstehen, dass diese Qualia-Qualitäten nicht etwa nur als einstudierte Gesten in die Darbietung eingebracht werden, sondern im Moment der Darbietung auch tatsächlich vom Künstler empfunden werden. Übersteigt die vom Künstler eingebrachte und den Hörern übermittelte Empfindung dann in erheblichen Maße das, was die Hörer in ihrem normalen Leben an Empfindungs-Intensität erleben, so kann es in manchen Fällen tatsächlich zu einer „Erschütterung“ des Hörers durch die Musik kommen.

Inspiration

Tatsächlich verkürzt die in dem Artikel wiedergegebene Argumentation Holger Schäfers den Sachverhalt um einen wichtigen Punkt: „Das Profil, die Konzentration auf die Intonation eines einzelnen Tons, immer weniger wichtig zu nehmen“ – das findet keineswegs exklusiv im Chorgesang, im Folk und im Minnesang statt, sondern das ist ganz generell ein wichtiger Bestandteil des in der Musikdarbietung so wichtigen Vorgangs der Inspiration, ohne den eine gute Interpretation gar nicht stattfinden kann. Die Konzentration auf einzelne technische Probleme der Interpretation hat stattzufinden in den Proben und nur eben eine entsprechende Vorbereitung und Probenarbeit kann im Moment der Darbietung die Inspiration ermöglichen, denn diese ist nur möglich im Zustand der gedanklichen und innerlichen Ablösung von solchen technischen Aspekten. Auf diesen inspirierten Zustand sollte im Idealfall das innige Musik machen aufsetzen und ihn, wie oben beschrieben, um die spirituelle Dimension bereichern.


Resümee

Aber vielleicht ist das anders in der Szene der mittelalterlichen Musik, in der sich durchaus einige Musiker finden, die man aus der Sichtweise der klassischen Musik als Liebhaber bezeichnen würde. Holger Schäfer hingegen, das lassen die kurzen Ausschnitte in den Videos deutlich erkennen, macht zweifellos auf professionelle Weise Musik – und dazu dürften auch gründliche Proben gehören. Seine Eigenart, die ihn wohl der klassischen Musik entfremdet hat und ihn im Minnesang eine neue musikalische Heimat finden ließ, dürfte der hohe Stellenwert der Spiritualität sein, mit der er seine Zuhörer im Minnesang in seinen Bann zu ziehen versteht.

Die klassische Musikszene wiederum weiß mit solcher Gewichtung von Begabung und Fähigkeiten nicht immer gut umzugehen. In erheblichem Maße stehen hier die Beherrschung des Technischen sowie die Perfektion bei der Darbietung im Vordergrund. Während diesbezüglich in der Musikausbildung eine wichtige Rolle spielt, dass sich diese Faktoren eben gewissermaßen messen lassen und auf diese Weise eine „objektive“ Bewertung zu ermöglichen scheinen, dürfte auf Seiten des Publikums bei einigen Hörern auch eine Scheu vor allzu bewegenden Darbietungen, sowie bei manchen Kritikern ein weit gehender Intellektualismus zu einer manchmal erstaunlich positiven Bewertung wenig bewegender Musikdarbietungen führen.

Dienstag, 16. Juni 2009

Nikischs Interpretation des 1. Satzes von Beethovens 5. Symphonie

© Gernot von Schultzendorff 2009

POST vom 16. 6. 2009

 

Beethoven: Sinfonie Nr. 5 c-moll op. 67, 1. Satz
Aufnahme mit dem Berliner Philharmonischen Orchester unter Arthur Nikisch (1913)



Für diesen Beitrag habe ich eine klangliche Bearbeitung der Aufnahme angefertigt, die deutlich weniger dünn als das Audio auf YouTube klingt. Diese Bearbeitung kann man hören unter http://www.ourmedia.org/media/beethoven-5-sinfonie-1-satz-berliner-philh-nikischeqd.


Vergleichsaufnahmen:

Themen:

  • Vor der interpretatorischen Zeitenwende
  • Das Schicksalsmotiv
  • Tempomodifikationen als Differenzierungsmittel
  • Verschiedene Arten von Accelerando
  • Seitenthema
  • Oboensolo
  • Dokument des Übergangs in den Interpretationsstilen

 

Vor der interpretatorischen Zeitenwende

Der 1. Weltkrieg stellt sich im Rückblick als eine Art Zeitenwende der musikalischen Interpretation dar. Hermann Scherchen spricht einerseits davon, dass die Musik nach 1918 „den Einbruch des sogenannten ‹sachlichen Aufführungsstils›, einer Musizierweise, die sich damit begnügte, nur das zu spielen, was genau vorgeschrieben war“, […] „erlitt“ (Die Kunst des Dirigierens, S. 229). Andererseits schreibt er: „Bis 1914 überboten sich ‹Instrumental- wie Taktstock-Virtuosen› in persönlichen Interpretationen. […] In diese Zeit hinein kommt das Phänomen Toscanini mit der strikten Forderung, sich nur an den Text des Komponisten zu halten, dessen Tempi nicht abzuändern und die Dynamik nicht völlig unzugestalten. Nach 1918 wurde diese Forderung Toscaninis über Nacht verbindlich für das musikalische Reproduzieren“ (S. 230).

Sieht man den jeweiligen Interpretationsstil einer Epoche auch als Ausdruck eines Zeitgeistes, so wird die musikalische Interpretation in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg geprägt von dem Vordringen der Naturwissenschaften und von dem Glauben, man könne eine geordnete Struktur für die Welt finden.

Nikischs Aufnahme der 5. Sinfonie Beethovens mit den Berliner Philharmonikern ist offenbar das einzige Dokument einer Interpretation eines großen sinfonischen Werkes aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Hat man sich an den für heutige Ohren unbefriedigenden Klang gewöhnt, werden Interpretationsweisen erkennbar, die seit vielen Jahren zum Teil ungebräuchlich oder verpönt, oft aber einfach in Vergessenheit geraten sind. Auf ihre Weise ebenso zeitgebunden wie die heutigen Interpretationsstile, können sie in manchen Fällen Facetten der Werke sichtbar machen, die auf andere Weise nicht darstellbar sind. Ein paar dieser Aspekte sollen hier im Interpretationsvergleich diskutiert werden.

 

Das Schicksalsmotiv

Bereits in der Spielweise des „Schicksals“-Motivs zu Beginn des Werkes (in den ersten 4 Takten) liegen Welten zwischen den verschiedenen hier betrachteten Interpretationen:

  • Harnoncourt nimmt am stärksten die Aufmerksamkeit weg von dem berühmten, aber auch arg überstrapazierten Stückanfang, die ganzen ersten 4 Takte hören sich bei ihm an wie ein Auftakt zu dem Folgenden.
  • Die 3 Achtel jeweils vor der Fermate verlaufen bei Furtwängler und Harnoncourt gleichmäßig, während man bei Nikisch eine, wie ich finde, merkliche Verzögerung auf dem ersten Achtel hört, von der sich bei Karajan (falls ein interpretationshistorischer Zusammenhang besteht) noch eine Andeutung erhalten hat.

Bei Karajan nun wird diese Fermate sehr früh gespielt, die beschriebene Verzögerung des ersten Achtels stellt sich dadurch in einem Kontext dar, der wie eine Beschleunigung innerhalb des Motivs wirkt, die durch den sehr frühen Anschluss der Wiederholung des Motivs noch verstärkt wird. Nikisch hingegen platziert die Fermate an der zu erwartenden Stelle, wirkt also wenig vorwärtsdrängend, und er kostet die Fermate fast bis zum Äußersten aus. Diese Anfangstakte haben bei ihm ein viel stärkeres Eigenleben als in den anderen, späteren Interpretationen.

 

Tempomodifikationen als Differenzierungsmittel

Nicht nur unterscheiden sich die Grundtempi der betrachteten Aufnahmen (Karajan und Harnoncourt lassen tendenziell schnell, Furtwängler und Nikisch hingegen langsam spielen), in erheblichem Maße unterschiedlich sind sie auch in ihrem Umgang mit Tempomodifikationen.

Natürlich gibt es einen Konsens unter allen ernst zu nehmenden Musikern, dass Metronomangaben nicht strikt auf alle Takte der mit ihnen bezeichneten Sätze oder Satzteile eines Werkes angewendet werden können und sollen. Oft wird das Seitenthema in einem veränderten Tempo gespielt, innerhalb eines musikalischen Bogens gibt es mehr oder minder fließende Tempoveränderungen, die als natürlich und lebendig wahrgenommen werden. David Epstein beschreibt dies in Shaping Time: „No sensitive musician will play a work adhering rigidly to a metronomic beat. The ebb and flow of musical tensions foster small distensions and contractions of the pulse, as well as more extreme rubati in appropriate moments“ (S. 103). In aller Regel ist eine Art von Grundtempo vorhanden, das als Ausgangspunkt dient, zu dem an bestimmten Stellen wieder zurückgekehrt wird und welches der Bezugspunkt ist für Modifikationen des Tempos an bestimmten Orten der musikalischen Struktur.

Deutlich anders aber stellt sich der Umgang mit dem Tempo in Nikischs hier untersuchter Interpretation dar. Auf höchst virtuose und äußerst musikalische Weise ist die ständige Variation des Tempos das Hauptausdrucksmittel dieser Darbietung. Fast scheint es, als würde Nikisch den Harmoniewechseln in der Komposition und dem Wechsel der Formteile mit seinen Tempoveränderungen ein gleichwertiges interpretatorisches Pendant an die Seite stellen.

Nun ist es durchaus auch heute gängige Praxis vieler Interpreten, über die in dem Epstein-Zitat beschriebenen Tempoänderungen als Folge von Spannungsverläufen hinaus den Hörer auf bestimmte Stellen einer Komposition durch eine leichte Tempomodifikation aufmerksam zu machen. Finden solche Modifikationen nicht statt, kann manchmal der Eindruck entstehen, der Interpret „überspiele“ die betreffende Stelle.  Aber dieses Mittel wird doch eher sparsam eingesetzt, während es sich bei Nikisch in dieser Aufnahme um eine durchgängig angewandte Interpretationsweise handelt.

Nikischs Umgang mit den Tempomodifikationen lässt eine alles andere als willkürliche Tempo-„Architektur“ entstehen, vergleichbar der kompositorischen Architektur eines bedeutenden Werkes. Jeder seiner Tempowechsel stellt einen neuen sinnvollen und das Werk erhellenden Bezug nicht nur zu dem jeweils vorangegangenen Tempo, sodern auch zu früheren Tempi her, sei es als Kontrast, als Modifikation oder als Variation. Und obwohl kein Tempo als gleich mit einem anderen empfunden wird, hat der Hörer dennoch den Eindruck eines im Hintergrund wirksamen Grundtempos, das sich aus all den vielen beschriebenen Bezügen klar und deutlich ergibt.

Angesichts des sehr häufigen Vorkommens des „Schicksalsmotives“ in diesem Satz macht Nikischs Interpretationsweise in besonderem Maße Sinn. Durch das zusätzliche Differenzierungsmittel des Tempos gibt es keine Wiederkehr des Motivs, die als Wiederholung wahrgenommen könnte, sondern jede Wiederkehr wird als etwas Neues in der Architektur des Satzes empfunden.

 

Verschiedene Arten von Accelerando

Auch in Bezug auf die Spielweise von Accelerandi unterscheiden sich die Interpretationsweisen sehr stark. Als Beispiel soll die Passage vor dem Seitenthema (ab T. 25) verglichen werden:

  • Harnoncourt verweigert sich weitgehend einer Beschleunigung, die Spannungserhöhung im Laufe dieser Takte ist bei ihm geradezu das Ergebnis davon, dass den Erwartungen des Hörer auf eine Beschleunigung parallel zum Crescendo nicht stattgegeben wird.
  • Bei Nikisch ist ganz umgekehrt die Spannungserhöhung das Ergebnis seiner Beschleunigung; diese findet ganz gleichmäßig über die ganze Passage statt, man könnte sie als „lineares accelerando“ bezeichnen.
  • Furtwängler beschleunigt im ersten Teil dieser Passage (p und cresc.) gewissermaßen terassenförmig in Schritten von Viertaktgruppen, im 3. Takt des forte folgt dann noch eine für ihn sehr typische mitten in der Phrase versteckte Beschleunigung.
  • Karajan wiederum beschleunigt nur den 2. Teil der Passage (ab dem f in T. 44), und zwar in der eben beschriebenen terassenförmigen Weise, eingeleitet von einem Temposprung.

 

Seitenthema

Indem er vor dem Auftauchen des Seitenthemas nicht beschleunigt hat, gibt es bei Harnoncourt Spielraum für ein Anziehen des Tempos beim Seitenthema selbst. Die Überleitung des Hornes zum Seitenthema ist besonders schnell gespielt, demgegenüber ist das Tempo des Seitenthemas dann wieder etwas zurückgenommen. Als musikalisch völlig organisch kann ich diese Gestaltungsweise allerdings nicht wahrnehmen, und auch die Phrasierung der Seitenthema - Passage, die zuerst die Viertaktgruppen, dann die Zweitaktgruppen stark voneinander absetzt, ist gewöhnungsbedürftig. Ab dem auf das Seitenthema folgenden ff nimmt Harnoncourt sein (etwas schnelleres) Grund- und Anfangstempo wieder auf und verzichtet erneut auf Accelerandi.

Karajan und Furtwängler kehren beim Seitenthema in etwa zurück zu dem Tempo vor der jeweiligen Beschleunigung. Karajan beschleunigt zum Schluss der Exposition hin noch sehr deutlich, während Furtwängler beim für das Seitenthema gewählten Tempo bleibt.

Bei Nikisch hingegen meint man das Seitenthema neu zu hören. Nach einer (spiegelbildlich zu Harnoncourts Tempoanlage) deutlich verlangsamten Hornüberleitung liegt sein Tempo für das Seitenthema etwas über dem Tempo, wie wir es zu Beginn der dem Seitenthema vorangehenden Beschleunigung gehört haben, und die eigene Individualität, die das Seitenthema durch eben diese Tempogestaltung gewinnt, gibt ihm (aus meiner Sicht) Freiraum zu einer Entfaltung, die ihm ganz gemäß zu sein scheint. Nikisch führt die Exposition anschließend mit einer erneut weit angelegten und gleichmäßigen Beschleunigung zu Ende.

 

Oboensolo

Auch mit dem Oboensolo am Übergang zur Reprise wird in den hier betrachteten Interpretationen in sehr unterschiedlicher Weise verfahren:

  • Erneut gelingt es Harnoncourt, aus überraschend gleichmäßigem Tempo eine starke musikalische Wirkung zu erzeugen. Allerdings irritiert er viele Hörer mit seiner Behandlung der vorangegangenen Fermaten, die fast überhaupt nicht ausgehalten werden.
  • Karajans starke Verlangsamung vor dem Oboensolo wirkt konventionell und nimmt der eigentlich sehr schön gespielten Passage einiges von ihrer Wirkung.
  • Am wenigsten Eigenleben scheint das Oboensolo bei Furtwängler zu haben, da drumherum interpretatorisch bereits so viel passiert; auch Furtwängler leitet es mit einem konventioll wirkenden Ritardando ein.
  • Nikisch lässt bereits ab den Fermaten wenige Takte vor dem Oboensolo ein langsames Tempo spielen und kommt deshalb vor dem Oboensolo selbst mit einem geringen Ritardando aus. Da er auch nach dem Oboensolo nur allmählich das Tempo wieder aufnimmt, scheint es, als habe dieses Solo viel mehr als in den anderen Interpretationen seinen eigenen Raum; die Zusammenhänge mit den anderen Teilen des Satzes wirken in diesem Moment fast wie ausgeblendet.

 

Dokument des Übergangs in den Interpretationsstilen

Kann man davon sprechen, dass Nikischs Interpretation bezüglich der Tempogestaltung typische Charakteristika der Zeit um die Jahrhundertwende und noch früher aufweist? Es gibt Hinweise darauf, dass im 19. Jahrhundert Tempo und Pulsschlag weniger rigide, weniger selbstsicher gespielt wurden als später. Aber einer solchen Beschreibung scheint die von Nikisch geleitete Interpretation nicht zu entsprechen, Tempo und Pulsschlag wirken ja auch nach heutigem Empfinden weitgehend sehr deutlich.

Ein Relikt von weniger rigide gespielem Puls finden wir möglicherweise in der am Anfang dieses Artikels beschriebenen Spielweise des Schicksalsmotivs (Verzögerung auf der ersten Note). Insgesamt jedoch hören wir in dieser Interpretation wahrscheinlich bereits die Zeichen eines Übergangs zwischen größeren Interpretationsepochen, in dem einerseits Tempo und Puls bereits deutlich markiert werden, andererseits sich aber noch starke Reste einer bezüglich des Tempos sehr freien (wiewohl bei Nikisch musikalisch enorm logischen) Spielweise erhalten haben.

Dienstag, 26. Mai 2009

Uchida, Schumann op. 17, Webern op. 27, interpretatorische Abfärbungen

© Gernot von Schultzendorff 2009

BLOG vom 18. 5. 2009


Klavierabend Mitsuko Uchida im Großen Sendesaal des NDR in Hannover am 16.5.2009

 

Programm

  • Mozart: Rondo Nr. 3 a-moll KV 511
  • Webern: Variationen Op. 27
  • Beethoven: Sonate Nr. 28 A-Dur op. 101
  • Schumann: Fantasie C-Dur op. 17

Daran anknüpfendes Thema:

  • Programm-Bezüge und interpretatorische Abfärbungen


Auch und gerade große Künstler sind zum Glück keine Computer, weiterhin ist die Inspiration ein sehr menschlicher Faktor. War man in der Pause von Mitsuko Uchidas Klavierabend in zwar gehobener, aber keineswegs überwältigter Stimmung, so sprang der Funke zwischen Künstler und Publikum in der 2. Konzerthälfte mit der Schumann-Fantasie in einem Maße über, das den Abend zu einem überaus gelungenen machte. 


Schumann: Fantasie C-Dur op. 17

[Vergleichsaufnahme:

  • Wilhelm Kempff (1957, Mono)]

In Uchidas Interpretation stand die Musik in einer Weise im Vordergrund, die zur Pflicht erklärt werden sollte in der musikalischen Interpretation. Gerade diese Komposition kann ungemein in Mitleidenschaft gezogen werden durch die Folgen von Strategien, mit denen falsche Töne auf Kosten musikalischer Erfordernisse vermieden werden sollen. Insbesondere in der Stretta des 2. Satzes kann nur ein hoher Kontrast des neuen Tempos zur vorangehenden Passage („Viel bewegter“) den Schumannschen Intentionen und dem miterlebenden Verständnis der Hörer gerecht werden kann; aber auch die Beachtung der von Schumann vorgegebenen starken dynamischen Kontraste bedeutet stets ein Risiko, das es einzugehen gilt auf Kosten einer Perfektion, die hier nur eine nachgeordnete Rolle spielen darf.

Wunderbar war der Umgang mit den vielen delikaten Harmoniewechseln und Modulationen, von Uchida auf das Schönste ausgehört dargeboten, ohne dass sie sich dabei auch nur im Geringsten verselbständigten. Wunderbar war auch die einfache Akkordbrechung gespielt, das Haupt-„Thema“ des dritten Satzes; als Begleitungsfigur aus zahllosen italienischen Arien bekannt wird sie in diesem Satz zum eigentlichen Inhalt der Musik, furios zum Schluss hin gesteigert, und es war faszinierend, die unendlichen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten dieser von Schumann wie von der Interpretin so abwechlungsreich behandelten Akkordbrechung mitzuerleben.

Verständlich war auch in hohem Maße das Metrum, das dem Hörer so leicht auf die falschen Zählzeiten verrutscht in vielen Passagen dieses Werkes, wenn die Interpretation dem nicht vorbeugt; wie leicht können wichtige Abschnitte der Musik für das Publikum im Grunde unverständlich und das Miterleben dann auf das Mitempfinden einer allgemeinen Leidenschaftlichkeit reduziert werden.

Diese Leidenschaftlichkeit selbst, die Grundstimmung dieses Werkes, sie kann gar nicht intensiv genug dargestellt werden, und Uchida blieb den Hörern auch in dieser Hinsicht nichts schuldig. Und sie langte in die Tasten, in der Schlussphase des 2. Satzes zumal, dass man fast dachte, es wäre des Guten zuviel, aber Schumann hat hier, indem die von ihm vorgegebene Dynamik zwischen ff und fff schwankt, eben dies notiert.

Wie verschieden demgegenüber die Aufnahme von Wilhelm Kempff: In einem für einen bedeutenden Künstler doch sehr seltenen Ausmaß kümmert er sich herzlich wenig um eine dem Werk gerecht werdende Interpretation, nur die weite Dynamik steht auf einem  interpretatorischen Niveau, das dem von Uchida in diesem Werk vergleichbar ist. Enttäuschend auch seine Behandlung der Duolen und Quartolen im 3. Satz, sie sind bei ihm so gar nicht zu unterscheiden von ganz normalen Achteln, wo sie doch über von den der linken Hand gespielten 3 Achtel-Gruppen quasi zu schweben hätten. Generations­bedingt ist dies nicht unbedingt: Viele großartige Schumann-Interpretationen, allerdings mit einem gewissen Schwerpunkt im Liedgesang, verdanken wir Künstlern seiner Zeit.


Programm-Bezüge und interpretatorische Abfärbungen 

Selten nur trifft man auf Konzertprogramme mit so interessanten wie geheimnisvollen Bezügen zwischen den Stücken wie in diesem Recital Uchidas, so verschieden die Musikstile und die Epochen der Entstehung der Werke auch sein mögen. Eine besonders interessante Erfahrung für die Hörer ist dabei, welche interpretatorischen Veränderungen mit den Stücken vorgehen können, wenn die Stücke in ihrer Zusammenstellung nicht nur für sich stehen, sondern wenn sich Zusammenhänge zwischen ihnen in Inhalt oder Geist herausstellen.

So war in diesem Konzert die Interpretation der Sonate op. 101 von Beethoven durch Mitsuko Uchida durchaus ein Pausengespräch, und die Erstaunlichkeit, ja fast sogar Rätselhaftigkeit ihrer Darstellung fand erst in der zweiten Konzerthälfte ihre Auflösung. Denn Uchidas Beethoven-Interpretation an diesem Abend stand durchaus in deutlichem Gegensatz zu ihren Beethoven-Aufnahmen; insbesondere solche stark zerfließenden, ineinander übergehenden und wenig kontrastierten Tempi findet man dort höchstens in zarten Ansätzen. „Der Beethoven“ dieses Abends hingegen deutete, wie sich herausstellte, eben schon hin auf das Hauptwerk des Programms, auf den Schumann, und gerade dieser auch interpretatorische Bezug war eines der besonderen, noch lange in der Erinnerung bleibenden Hörerlebnisse.

Dabei fragt man sich, ob es sich bei einer solchen interpretatorischen Abfärbung um einen von der Künstlerin gewollten oder eher um einen unbewussten Vorgang handelt. In Erinnerung kommen mir Konzerterlebnisse mit Vladimir Horowitz, bei denen die Konzerthälften aus ziemlich bunt gemischten Programmen bestanden, denen dieser Virtuose jeweils einen bestimmten musikalisch-technischen Aspekt, etwa eine bestimmte Klangfarbe, überstülpte. So atemberaubend und erstaunlich diese Kunst Horowitz` auch war, ist im Grunde die inhaltliche Abfärbung interpretatorischer Aspekte, wie bei Uchida erlebt, musikalisch doch sehr viel ergiebiger, und es war im Nachhinein äußerst interessant erlebt zu haben, wie, wohlgemerkt: innerhalb eines Konzertprogramms, eine Beethoven-Sonate aus dem Geiste Schumanns sich darstellt.


Webern: Variationen op. 27 

Vergleichsaufnahmen:

Alle überlieferten Zeugnisse und Berichte sowie auch die erstaunliche Aufnahme mit Webern als Dirigenten des Bergschen Violinkonzerts deuten darauf hin, dass seine Musik mit allergrößter Intensität, Leidenschaft und Expressivität zu spielen ist. Offenbar kann man ihr kaum weniger gerecht werden als mit einer „werktreuen“ Interpretation. Zwei Zitate mögen dies belegen.

  • Peter Heyworth (ed.): Conversations with Klemperer, S. 94

Klemperer: „I conducted his [Webern`s] symphony in Berlin as well as in Vienna. But I couldn`t find my way into it. I found it terribly boring. So I asked Webern – I was staying in Vienna – to come and play it to me on the piano. Then perhaps I would understand it better. He came and played every note with enormous intensity and fanaticism.“

Heyworth: „ Not coolly?“

Klemperer: „No, passionately! When he had finished, I said, ‘You know, I cannot conduct it in that way. I`m simply not able to bring that enormous intensity to your music. I must do as well as I can.’ “

  • Peter Stadlen, der Pianist der Uraufführung von op. 27, schreibt in einem Brief vom 16. 10. 1937 über seine Arbeit mit Webern an diesem Werk (aus dem Englischen übersetzt von Walter Kolneder in seinem Buch: Anton Webern, Köln 1961, S. 128/129).

„Wenn er [Webern] sang und schrie, seine Arme bewegte und mit den Füßen stampfte beim Versuch, das auszudrücken, was er die Bedeutung der Musik nannte, war ich erstaunt zu sehen, daß er diese wenigen, für sich allein stehenden Noten behandelte, als ob es Tonkaskaden wären. Er bezog sich ständig auf die Melodie, welche, wie er sagte, reden müsse wie ein gesprochener Satz. Diese Melodie lag manchmal in den Spitzentönen der rechten Hand und dann einige Takte lang aufgeteilt zwischen linker und rechter. Sie wurde geformt durch einen riesigen Aufwand von ständigem Rubato und einer unmöglich vorherzusehenden Verteilung von Akzenten. Aber es gab auch alle paar Takte entschiedene Tempowechsel, um den Anfang eines »neuen gesprochenen Satzes« zu kennzeichnen... Gelegentlich versuchte er, die allgemeine Stimmung eines Stückes aufzuzeigen, indem er das quasi improvisando des ersten Satzes mit einem Intermezzo von Brahms verglich, oder den Scherzocharakter des zweiten mit der Badinerie von Bachs h-moll-Suite, an die er, wie er sagte, bei der Komposition seines Stückes gedacht hatte. Aber die Art, in der dieses aufgeführt werden mußte, war in Weberns Vorstellung genau festgelegt und nie auch nur im geringsten der Stimmung des Augenblicks überlassen... Nicht ein einzigesmal berührte Webern den Reihenaspekt seiner Klaviervariationen. Selbst als ich ihn fragte, lehnte er es ab, mich darin einzuführen - weil es, sagte er, für mich wichtig wäre, zu wissen, wie das Stück gespielt wird, nicht wie es gemacht worden ist. “

Mitsuko Uchidas Wiedergabe der Variationen op. 27 war adäquat, insbesondere im Zusammenhang dieses sehr überlegt zusammengestellten Konzertprogramms. Jedoch verging die Musik recht schnell, es gab nicht sehr viele Punkte in ihrer Darstellung, an der man als Hörer hängenblieb.

Maurizio Pollini und Glenn Gould hingegen spielen dieses Werk mit so vielen immanenten Bezügen, Kontrasten, kurz aufblitzenden Gestalten, dass der Hörer mit ihrer Verarbeitung außerordentlich beschäftigt ist und die sehr kurzen Sätze als durchaus lang und enorm inhaltsreich empfindet. Die leidenschaftliche, expressive Komponente ist jedoch auch in diesen Darstellungen keineswegs stark ausgeprägt. Wolfram Goertz beschreibt in seinem Artikel in der ZEIT vom 14.6.2006, (http://www.zeit.de/2006/25/D-Musikklassiker-25_xml) die (überraschend hallig aufgenommene) Interpretation Krystian Zimermans als „flammend expressiv“, und sicherlich ist sie deutlich expressiver als diejenigen seiner Kollegen Pollini und Gould. Aber was sich alles an Expressivität in diesen 3 Sätzen verbirgt, welche Leidenschaft die kleinsten Figuren, ja einzelne Noten bereits beseelen könnte und sollte, das scheint auch Zimerman nur ansatzweise ans interpretatorische Licht zu bringen.