Montag, 24. August 2009

CD-Kritik: Prokofiev 3. Klavierkonzert - Kissin/Philharmonia Orchestra/Ashkenazy


© Gernot von Schultzendorff 2009

POST vom 24. 8. 2009


CD - Kritik

Prokofiev Klavierkonzerte [Nr. 2 g-moll op. 16 und] Nr. 3 C-Dur op. 26 – Yevgeni Kissin / Philharmonia Orchestra London / Vladimir Ashkenazy
EMI 2645362



Vergleichsaufnahmen 3. Konzert [diese beiden Aufnahmen sind mit dem 1. Klavierkonzert Prokofievs gekoppelt]:

Daran anknüpfende Themen:

  • Idiomatik versus Struktur
  • Punktuell besonders gelungener Klang
  • Prokofievs Kompositionen, Filmmusik und deren Interpretationsweise
  • Die Wirkungsmacht subtiler Tempoveränderungen
Evgeny (oder Yevgeny) Kissin hat das als pianistisch sehr anspruchsvoll geltende 3. Klavierkonzert Prokofievs häufig in seiner Karriere gespielt, von einer frühen Aufnahme aus seiner Wunderkind-Zeit (wie jung ist er da, siehe die Sequenz bei 4’28“!) gibt es die ersten 5 Minuten des 1. Satzes als faszinierendes Video bei Youtube.

URL: http://www.youtube.com/watch?v=hD8p1MOMlic


Idiomatik versus Struktur (Ashkenazy versus Abbado)

Es ist interessant, die beiden CD-Aufnahmen des 3. Klavierkonzert, die Kissin im Abstand von 15 Jahren eingespielt hat, miteinander zu vergleichen. Die im Zusammenspiel mit dem ebenfalls russischen Dirigenten Ashkenazy sehr viel deutlichere Idiomatik (die „russische Seele“) nimmt den Hörer unmittelbar für die neuere Aufnahme ein, ebenso die häufig sehr temperamentvolle Spielweise. Aber nicht alle interpretatorischen Herausforderungen wirken restlos gelöst, die Idiomatik scheint gelegentlich (vor allem im 3. Satz) etwas übertrieben, der Übergang vom 2. zum 3. Satz wirkt sehr schnell, ebenso wie einige Übergänge innerhalb der Sätze. Insbesondere Ashkenazy reizt die idiomatischen und spielerischen Aspekte des Stückes so weit aus, dass dem Hörer andere Perspektiven etwas zu wenig beachtet vorkommen können.

So stellt die Spielweise der Berliner Philharmoniker unter Abbados Leitung, die auf eine ganz selbstverständliche Weise die großflächige und die feinere Struktur des Werkes als einen der interpretatorischen Ausgangspunkte behandelt, in wesentlich stärkerem Maße den Eindruck eines „klassischen“ Stückes her. Was hier zum Tragen kommt, ist dieses schwer zu beschreibende Gefühl des Hörers, dass sich verschiedene Teile der Sätze strukturell aufeinander beziehen, und dass, merklich durch winzige Unterteilungen, eine Phrase auch in der Aufeinander-Bezüglichkeit ihrer einzelnen Elemente dargestellt wird; ein interpretatorisches Element, das, wie man auf Aufnahmen gut verfolgen kann, in Interpretationen der letzten Jahrzehnte generell eine sehr viel größere Rolle spielt als in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts.


Punktuell besonders gelungener Klang

Der Klang der neuen Aufnahme bewegt sich auf sehr hohem Niveau, es ist jedoch auffällig, dass einzelne Stellen ganz besonders gut gelungen sind – beispielsweise der allererste Anfang und die Stelle bei 9’ im 2. Satz. Eine solche Wirkung kann leicht zu Tage treten aufgrund einer Verfahrensweise bei der Nachbearbeitung einer Aufnahme, bei der man die während der Aufnahme bereits erstellte 2-Spur-Mischung weitgehend übernimmt und nur einzelne, meist von den Künstlern benannte Stellen mit besonderer Sorgfalt von den ebenfalls aufgenommenen und geschnittenen Multitrack-Spuren erneut abmischt. So gewinnt der aufmerksame Hörer eventuell eine Ahnung davon, wie gut die gesamte Aufnahme klingen könnte, wenn man nicht nur einzelne Stellen, sondern alles noch einmal neu abgemischt hätte. Nicht immer freilich ist eine komplette Neuabmischung eine Garantie für besseres Gelingen – der Vorteil einer Livemischung kann auch eine größere Einheitlichkeit sein.


Prokofievs Kompositionen, Filmmusik und deren Interpretationsweise

Nicht nur hat Prokofiev neben seinen Werken für die Oper und den Konzertsaal auch eine beträchtliche Menge an eigener Filmmusik geschrieben – sein Kompositionsstil, häufig auch einzelne Details seiner Kompositionen sind in größerem Umfang von anderen Filmmusik-Komponisten imitiert, wenn nicht gar kopiert worden.

Die meist punktuell bestimmten Filmszenen dienende Rolle von Filmmusik bedingt auch einen deutlich anderen Interpretationsstil als bei einer nur im Konzertsaal beheimateten Musik. Bei dem Komponisten Prokofiev kann sich das durchaus vermischen, und während man bei der Aufnahme mit Abbado von Filmmusik wenig wahrnimmt, setzt Ashenazy sehr viel deutlicher auf diese Komponente. Die Spielweise vieler Passagen hat bei ihm neben dem Charakter der absoluten Musik auch einen plakativen Charakter, und Stellen, die auf den Effekt hin komponiert zu sein scheinen, bekommen diesen Effekt interpretatorisch auch uneingeschränkt zugestanden; in einer sehr beeindruckenden, manchmal aber, in dem Kontext des sonstigen Interpretationsstils, auch fast schon übertriebenen Weise.

Ein Betrachter des oben in diesem Post eingebundenen YouTube-Videos macht in seinem Kommentar aufmerksam auf die Aufnahme 3. Klavierkonzertes mit Gary Graffman und dem Cleveland Orchestra unter George Szell. Diese, aus einer Zeit (1966) stammend, da solche Art von Filmmusik noch in großem Umfang komponiert und von den Orchestern eingespielt wurde, behandelt, mit größter Konsequenz und Virtuosität, das gesamte Konzert wie Filmmusik. Es wird anhand dieser eindrucksvollen Aufnahme besonders deutlich, wie sehr Prokofiev zwischen den Welten steht und dass er gewissermaßen für die Filmmusik fast zu gut, für die Konzertmusik hingegen ungewöhnlich effektvoll komponiert hat.


Die Wirkungsmacht subtiler Tempoveränderungen

Was die Aufnahme mit Graffman aber besonders weit über die normalen künstlerischen Ambitionen von Filmmusik heraushebt, ist ihr herausragender Umgang mit einem interpretatorischen Kunstmittel, dessen zentrale Rolle für die angemessene Interpretation sehr vieler Kompositionen meines Erachtens keineswegs immer gebührend gewürdigt wird.

In dem Abschnitt „Tempomodifikationen als Differenzierungsmittel“ meines Posts „Nikischs Interpretation des 1. Satzes von Beethovens 5. Symphonie“ werden vorrangig große und deutliche Tempoveränderungen untersucht, die Nikisch äußerst souverän, mit einer von späteren Interpreten nicht wieder erreichten Virtuosität und gleichzeitig Musikalität zum zentralen Gestaltungsmittel seiner Interpretation macht. Die Kunst der interpretatorischen Differenzierung mittels kleiner, eher unauffälliger Tempoveränderungen in Momenten bestimmter Motiv-, Themen- oder Harmoniewechsel hingegen ist eine viel dezentere. In vielen Fällen vermag aber nur sie dem Verlauf eines Stückes die notwendigen subtilen Perspektiv- oder Beleuchtungsmodifikationen zu verleihen, mit denen sichergestellt werden kann, dass bestimmte Veränderungen in der kompositorischen Struktur (formaler wie harmonischer Art) vom Hörer nicht nur gehört, sondern auch wahrgenommen werden, ohne dass ihre Wirkung gleich gewissermaßen die eines „an die große Glocke Hängens“ ist.

Aus umgekehrter Sichtweise ist es durchaus so, dass bestimmte Stellen in Kompositionen derartige Tempoveränderungen geradezu zwingend erfordern und man von einem „Überspielen“ oder auch „Verschenken“ der betreffenden Stelle sprechen kann, wenn eben eine solche Tempomodifikation vom Interpreten nicht realisiert, wenn der „Sinn“ der betreffenden Stelle vom Interpreten nicht dargestellt wird.

Graffmann und Szell nun erweisen sich als ausgesprochene Meister dieses Darstellungsmittels, in Verbindung mit ihrem stilsicheren Umgang mit Tempozurücknahmen an den richtigen Stellen gestalten sie dieses Werk in einer äußerst wirkungsvollen, dabei stets angemessenen Weise. - Angesichts dieser vorliegenden Interpretationen vor die Wahl für die klassische, die idiomatische oder die kineastische Variante gestellt, würde ich alle Aufnahmen sehr hoch einschätzen, mich vermutlich aber für die effektvolle, letztgenannte Aufnahme entscheiden.


[Der Verfasser war Tonmeister der Aufnahme mit Kissin und Abbado und hat mit Gary Graffman das Parergon zur Symphonia Domestica von Richard Strauss aufgenommen.

Graffman erkrankte auf dem Höhepunkt seiner Karriere an einer Musikerdystonie, die ihm das weitere Spiel mit der rechten Hand unmöglich machte. Ein noch etwas bekannterer Künstler mit dieser Krankheit ist der Pianist Leon Fleisher – diesem gelang es nach vielen Jahren, die Dystonie zu überwinden. Die Musikerdystonie wird ausführlich beschrieben in Kapitel 22 von Oliver Sacks sehr bemerkenswertem Buch „Der einarmige Pianist“.]

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