© Gernot von Schultzendorff 2009
POST vom 16. 6. 2009
Beethoven: Sinfonie Nr. 5 c-moll op. 67, 1. Satz
Aufnahme mit dem Berliner Philharmonischen Orchester unter Arthur Nikisch (1913)
Für diesen Beitrag habe ich eine klangliche Bearbeitung der Aufnahme angefertigt, die deutlich weniger dünn als das Audio auf YouTube klingt. Diese Bearbeitung kann man hören unter http://www.ourmedia.org/media/beethoven-5-sinfonie-1-satz-berliner-philh-nikischeqd.
Vergleichsaufnahmen:
- Furtwängler, Berliner Philharmoniker (http://www.youtube.com/watch?v=iqrvcv1irFQ)
- Karajan, Berliner Philharmoniker (1984)
- Harnoncourt, Chamber Orchestra of Europe (1991)
Themen:
- Vor der interpretatorischen Zeitenwende
- Das Schicksalsmotiv
- Tempomodifikationen als Differenzierungsmittel
- Verschiedene Arten von Accelerando
- Seitenthema
- Oboensolo
- Dokument des Übergangs in den Interpretationsstilen
Vor der interpretatorischen Zeitenwende
Der 1. Weltkrieg stellt sich im Rückblick als eine Art Zeitenwende der musikalischen Interpretation dar. Hermann Scherchen spricht einerseits davon, dass die Musik nach 1918 „den Einbruch des sogenannten ‹sachlichen Aufführungsstils›, einer Musizierweise, die sich damit begnügte, nur das zu spielen, was genau vorgeschrieben war“, […] „erlitt“ (Die Kunst des Dirigierens, S. 229). Andererseits schreibt er: „Bis 1914 überboten sich ‹Instrumental- wie Taktstock-Virtuosen› in persönlichen Interpretationen. […] In diese Zeit hinein kommt das Phänomen Toscanini mit der strikten Forderung, sich nur an den Text des Komponisten zu halten, dessen Tempi nicht abzuändern und die Dynamik nicht völlig unzugestalten. Nach 1918 wurde diese Forderung Toscaninis über Nacht verbindlich für das musikalische Reproduzieren“ (S. 230).
Sieht man den jeweiligen Interpretationsstil einer Epoche auch als Ausdruck eines Zeitgeistes, so wird die musikalische Interpretation in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg geprägt von dem Vordringen der Naturwissenschaften und von dem Glauben, man könne eine geordnete Struktur für die Welt finden.
Nikischs Aufnahme der 5. Sinfonie Beethovens mit den Berliner Philharmonikern ist offenbar das einzige Dokument einer Interpretation eines großen sinfonischen Werkes aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Hat man sich an den für heutige Ohren unbefriedigenden Klang gewöhnt, werden Interpretationsweisen erkennbar, die seit vielen Jahren zum Teil ungebräuchlich oder verpönt, oft aber einfach in Vergessenheit geraten sind. Auf ihre Weise ebenso zeitgebunden wie die heutigen Interpretationsstile, können sie in manchen Fällen Facetten der Werke sichtbar machen, die auf andere Weise nicht darstellbar sind. Ein paar dieser Aspekte sollen hier im Interpretationsvergleich diskutiert werden.
Das Schicksalsmotiv
Bereits in der Spielweise des „Schicksals“-Motivs zu Beginn des Werkes (in den ersten 4 Takten) liegen Welten zwischen den verschiedenen hier betrachteten Interpretationen:
- Harnoncourt nimmt am stärksten die Aufmerksamkeit weg von dem berühmten, aber auch arg überstrapazierten Stückanfang, die ganzen ersten 4 Takte hören sich bei ihm an wie ein Auftakt zu dem Folgenden.
- Die 3 Achtel jeweils vor der Fermate verlaufen bei Furtwängler und Harnoncourt gleichmäßig, während man bei Nikisch eine, wie ich finde, merkliche Verzögerung auf dem ersten Achtel hört, von der sich bei Karajan (falls ein interpretationshistorischer Zusammenhang besteht) noch eine Andeutung erhalten hat.
Bei Karajan nun wird diese Fermate sehr früh gespielt, die beschriebene Verzögerung des ersten Achtels stellt sich dadurch in einem Kontext dar, der wie eine Beschleunigung innerhalb des Motivs wirkt, die durch den sehr frühen Anschluss der Wiederholung des Motivs noch verstärkt wird. Nikisch hingegen platziert die Fermate an der zu erwartenden Stelle, wirkt also wenig vorwärtsdrängend, und er kostet die Fermate fast bis zum Äußersten aus. Diese Anfangstakte haben bei ihm ein viel stärkeres Eigenleben als in den anderen, späteren Interpretationen.
Tempomodifikationen als Differenzierungsmittel
Nicht nur unterscheiden sich die Grundtempi der betrachteten Aufnahmen (Karajan und Harnoncourt lassen tendenziell schnell, Furtwängler und Nikisch hingegen langsam spielen), in erheblichem Maße unterschiedlich sind sie auch in ihrem Umgang mit Tempomodifikationen.
Natürlich gibt es einen Konsens unter allen ernst zu nehmenden Musikern, dass Metronomangaben nicht strikt auf alle Takte der mit ihnen bezeichneten Sätze oder Satzteile eines Werkes angewendet werden können und sollen. Oft wird das Seitenthema in einem veränderten Tempo gespielt, innerhalb eines musikalischen Bogens gibt es mehr oder minder fließende Tempoveränderungen, die als natürlich und lebendig wahrgenommen werden. David Epstein beschreibt dies in Shaping Time: „No sensitive musician will play a work adhering rigidly to a metronomic beat. The ebb and flow of musical tensions foster small distensions and contractions of the pulse, as well as more extreme rubati in appropriate moments“ (S. 103). In aller Regel ist eine Art von Grundtempo vorhanden, das als Ausgangspunkt dient, zu dem an bestimmten Stellen wieder zurückgekehrt wird und welches der Bezugspunkt ist für Modifikationen des Tempos an bestimmten Orten der musikalischen Struktur.
Deutlich anders aber stellt sich der Umgang mit dem Tempo in Nikischs hier untersuchter Interpretation dar. Auf höchst virtuose und äußerst musikalische Weise ist die ständige Variation des Tempos das Hauptausdrucksmittel dieser Darbietung. Fast scheint es, als würde Nikisch den Harmoniewechseln in der Komposition und dem Wechsel der Formteile mit seinen Tempoveränderungen ein gleichwertiges interpretatorisches Pendant an die Seite stellen.
Nun ist es durchaus auch heute gängige Praxis vieler Interpreten, über die in dem Epstein-Zitat beschriebenen Tempoänderungen als Folge von Spannungsverläufen hinaus den Hörer auf bestimmte Stellen einer Komposition durch eine leichte Tempomodifikation aufmerksam zu machen. Finden solche Modifikationen nicht statt, kann manchmal der Eindruck entstehen, der Interpret „überspiele“ die betreffende Stelle. Aber dieses Mittel wird doch eher sparsam eingesetzt, während es sich bei Nikisch in dieser Aufnahme um eine durchgängig angewandte Interpretationsweise handelt.
Nikischs Umgang mit den Tempomodifikationen lässt eine alles andere als willkürliche Tempo-„Architektur“ entstehen, vergleichbar der kompositorischen Architektur eines bedeutenden Werkes. Jeder seiner Tempowechsel stellt einen neuen sinnvollen und das Werk erhellenden Bezug nicht nur zu dem jeweils vorangegangenen Tempo, sodern auch zu früheren Tempi her, sei es als Kontrast, als Modifikation oder als Variation. Und obwohl kein Tempo als gleich mit einem anderen empfunden wird, hat der Hörer dennoch den Eindruck eines im Hintergrund wirksamen Grundtempos, das sich aus all den vielen beschriebenen Bezügen klar und deutlich ergibt.
Angesichts des sehr häufigen Vorkommens des „Schicksalsmotives“ in diesem Satz macht Nikischs Interpretationsweise in besonderem Maße Sinn. Durch das zusätzliche Differenzierungsmittel des Tempos gibt es keine Wiederkehr des Motivs, die als Wiederholung wahrgenommen könnte, sondern jede Wiederkehr wird als etwas Neues in der Architektur des Satzes empfunden.
Verschiedene Arten von Accelerando
Auch in Bezug auf die Spielweise von Accelerandi unterscheiden sich die Interpretationsweisen sehr stark. Als Beispiel soll die Passage vor dem Seitenthema (ab T. 25) verglichen werden:
- Harnoncourt verweigert sich weitgehend einer Beschleunigung, die Spannungserhöhung im Laufe dieser Takte ist bei ihm geradezu das Ergebnis davon, dass den Erwartungen des Hörer auf eine Beschleunigung parallel zum Crescendo nicht stattgegeben wird.
- Bei Nikisch ist ganz umgekehrt die Spannungserhöhung das Ergebnis seiner Beschleunigung; diese findet ganz gleichmäßig über die ganze Passage statt, man könnte sie als „lineares accelerando“ bezeichnen.
- Furtwängler beschleunigt im ersten Teil dieser Passage (p und cresc.) gewissermaßen terassenförmig in Schritten von Viertaktgruppen, im 3. Takt des forte folgt dann noch eine für ihn sehr typische mitten in der Phrase versteckte Beschleunigung.
- Karajan wiederum beschleunigt nur den 2. Teil der Passage (ab dem f in T. 44), und zwar in der eben beschriebenen terassenförmigen Weise, eingeleitet von einem Temposprung.
Seitenthema
Indem er vor dem Auftauchen des Seitenthemas nicht beschleunigt hat, gibt es bei Harnoncourt Spielraum für ein Anziehen des Tempos beim Seitenthema selbst. Die Überleitung des Hornes zum Seitenthema ist besonders schnell gespielt, demgegenüber ist das Tempo des Seitenthemas dann wieder etwas zurückgenommen. Als musikalisch völlig organisch kann ich diese Gestaltungsweise allerdings nicht wahrnehmen, und auch die Phrasierung der Seitenthema - Passage, die zuerst die Viertaktgruppen, dann die Zweitaktgruppen stark voneinander absetzt, ist gewöhnungsbedürftig. Ab dem auf das Seitenthema folgenden ff nimmt Harnoncourt sein (etwas schnelleres) Grund- und Anfangstempo wieder auf und verzichtet erneut auf Accelerandi.
Karajan und Furtwängler kehren beim Seitenthema in etwa zurück zu dem Tempo vor der jeweiligen Beschleunigung. Karajan beschleunigt zum Schluss der Exposition hin noch sehr deutlich, während Furtwängler beim für das Seitenthema gewählten Tempo bleibt.
Bei Nikisch hingegen meint man das Seitenthema neu zu hören. Nach einer (spiegelbildlich zu Harnoncourts Tempoanlage) deutlich verlangsamten Hornüberleitung liegt sein Tempo für das Seitenthema etwas über dem Tempo, wie wir es zu Beginn der dem Seitenthema vorangehenden Beschleunigung gehört haben, und die eigene Individualität, die das Seitenthema durch eben diese Tempogestaltung gewinnt, gibt ihm (aus meiner Sicht) Freiraum zu einer Entfaltung, die ihm ganz gemäß zu sein scheint. Nikisch führt die Exposition anschließend mit einer erneut weit angelegten und gleichmäßigen Beschleunigung zu Ende.
Oboensolo
Auch mit dem Oboensolo am Übergang zur Reprise wird in den hier betrachteten Interpretationen in sehr unterschiedlicher Weise verfahren:
- Erneut gelingt es Harnoncourt, aus überraschend gleichmäßigem Tempo eine starke musikalische Wirkung zu erzeugen. Allerdings irritiert er viele Hörer mit seiner Behandlung der vorangegangenen Fermaten, die fast überhaupt nicht ausgehalten werden.
- Karajans starke Verlangsamung vor dem Oboensolo wirkt konventionell und nimmt der eigentlich sehr schön gespielten Passage einiges von ihrer Wirkung.
- Am wenigsten Eigenleben scheint das Oboensolo bei Furtwängler zu haben, da drumherum interpretatorisch bereits so viel passiert; auch Furtwängler leitet es mit einem konventioll wirkenden Ritardando ein.
- Nikisch lässt bereits ab den Fermaten wenige Takte vor dem Oboensolo ein langsames Tempo spielen und kommt deshalb vor dem Oboensolo selbst mit einem geringen Ritardando aus. Da er auch nach dem Oboensolo nur allmählich das Tempo wieder aufnimmt, scheint es, als habe dieses Solo viel mehr als in den anderen Interpretationen seinen eigenen Raum; die Zusammenhänge mit den anderen Teilen des Satzes wirken in diesem Moment fast wie ausgeblendet.
Dokument des Übergangs in den Interpretationsstilen
Kann man davon sprechen, dass Nikischs Interpretation bezüglich der Tempogestaltung typische Charakteristika der Zeit um die Jahrhundertwende und noch früher aufweist? Es gibt Hinweise darauf, dass im 19. Jahrhundert Tempo und Pulsschlag weniger rigide, weniger selbstsicher gespielt wurden als später. Aber einer solchen Beschreibung scheint die von Nikisch geleitete Interpretation nicht zu entsprechen, Tempo und Pulsschlag wirken ja auch nach heutigem Empfinden weitgehend sehr deutlich.
Ein Relikt von weniger rigide gespielem Puls finden wir möglicherweise in der am Anfang dieses Artikels beschriebenen Spielweise des Schicksalsmotivs (Verzögerung auf der ersten Note). Insgesamt jedoch hören wir in dieser Interpretation wahrscheinlich bereits die Zeichen eines Übergangs zwischen größeren Interpretationsepochen, in dem einerseits Tempo und Puls bereits deutlich markiert werden, andererseits sich aber noch starke Reste einer bezüglich des Tempos sehr freien (wiewohl bei Nikisch musikalisch enorm logischen) Spielweise erhalten haben.
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