Montag, 12. Oktober 2009

CD-Kritik: Brahms - 2. Symphonie / Berliner Philharmoniker / Rattle


© Gernot von Schultzendorff 2009

POST vom 12. 10. 2009


CD - Kritik

Brahms: Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 73 / Berliner Philharmoniker / Simon Rattle [aus der aktuellen Gesamtaufnahme der Symphonien]
EMI 2672542


Daran anknüpfende Themen:

  • Metrische Sogwirkung verleiht rätselhaften Passagen Sinn
  • Metrizität
  • Striktheit des Tempos versus Individualität einzelner Passagen
  • Große musikalische Bögen

Als Appetizer für den Video-Download bei der „Digital Concert Hall“-Plattform der Berliner Philharmoniker findet man bei YouTube folgendes Video mit dem Beginn des 4. Satzes der 2. Symphonie von Johannes Brahms.

URL: http://www.youtube.com/watch?v=4HXP90yzvrk


In vielerlei Hinsicht verweigert sich Rattles Interpretation tiefverwurzelten Hörerwartungen und setzt auf ein metrisch-rhythmisch sowie im Tempo strikt durchgehaltenes Konzept – mit teils (vor allem im Metrisch-Rhythmischen) großartigen, teils (vor allem was die Tempogestaltung des 1. und 3. Satzes angeht) aber auch weniger überzeugenden Ergebnissen.


Metrische Sogwirkung verleiht rätselhaften Passagen Sinn

So bekannt und vielgespielt sie auch sind (gerade dies mag der Grund sein), enthalten die Symphonien von Brahms eine Reihe von Passagen, deren eigentlicher interpretatorischer Sinn im Verlauf der auf Aufnahmen dokumentierten Interpretationsgeschichte meines Wissens nicht überzeugend erfasst und dargestellt zu sein scheint. Es ist geradezu eine interpretatorische Sensation, wie Rattle diese Passagen angeht und sie nicht enigmatisch erscheinen lässt, sondern ihnen eine völlig selbstverständlich wirkende musikalische Logik verleiht.

In der 2. Symphonie befinden sich solche Passagen vor allem im 2. Satz:

  • Auf die von den Celli vorgetragene Einleitung des 2. Satzes, die vom ganzen Orchester abgeschlossen wird, folgt [ab A] eine Passage, in der Terz- und Quartsprünge in gleichmäßigen Achteln mit synkopischen Sekund-Abwärtsbewegungen überlagert werden. Indem das einleitende Hornsolo durch geeignete Dehnungen einzelner Töne eine starke metrische Sogwirkung erzeugt, werden die Synkopen in den folgenden Takten in einem bislang unbekannten Maße hörbar und verständlich; diese sonst so abstrakt wirkende Stelle erstrahlt hier in großer lyrischer Schönheit.
  • Wenige Takte später, zu Beginn des 12/8-Taktes [bei B], dehnt Rattle die durch Pizzicati der Celli markierten Zählzeiten sehr stark, so dass die übergebundenen Noten der Holzbläser geradezu in die Zählzeiten hineinzufallen scheinen. Erst diese prononcierte, unmissverständliche Verdeutlichung des Metrums ermöglicht die außerordentliche Schönheit und Poesie in der Wiedergabe dieser Passage. Erneut wird bereits vor der kritischen Stelle eine starke metrische Sogwirkung erzeugt, wichtig ist an dieser Stelle auch, dass (entsprechend der Vorschrift „L`istesso tempo“) keinerlei Tempoänderung stattfindet.
  • Auch die Takte um E im 2. Satz, hier insbesondere die Achtel in den Bratschen und Celli, die durch die dominierenden Triolen in den 1. Violinen wie Duolen wirken, sowie den kurz darauf folgenden Übergang in den Takten 84 und 85, eine Variation der im ersten Absatz beschriebenen kompositorischen Konfiguration, habe ich noch nie mit einer so starken interpretatorischen Sinnhaftigkeit dargeboten gehört.


Metrizität

Die Variation der metrischen Wirkung in einer Musikwiedergabe ist ein in der musikinterpretatorischen Literatur durchaus vernachlässigtes Thema. In meiner bislang unveröffentlichten Arbeit „Das Metrum und die musikalische Zeit in der Darbietung von Musik“ (Abstract, Inhaltsverzeichnis und Vorwort sind über meiner Homepage zugänglich) benutze ich für die unterschiedlich starke Sogwirkung des Metrums auf den Hörer den in der Musik bislang nicht gebräuchlichen Begriff der Metrizität, diese bezeichnet „einen kaum messbaren, sehr wohl aber erfahrbaren Parameter der Musikwiedergabe. … Die ihn beeinflussende Spielweise bewegt sich auf dem Grat zwischen dem Verdeutlichen der metrischen Kräfte und ihrer Verschleierung, indem metrische Erwartungen beim Hörer in unterschiedlichem Maße geweckt und erfüllt werden.“


Striktheit des Tempos versus Individualität einzelner Passagen

Ganz anders, als es dem Hörer durch eine Vielzahl von Interpretationen anderer Dirigenten vertraut ist, setzt Rattle in weiten Teilen der hier besprochenen Aufnahme auf ein ausgesprochen striktes und strikt durchgehaltenes Tempo. Diese Herangehensweise scheint mir in gewissem Maße verwandt zu sein mit den sehr motorischen Brahms-Interpretationen Toscaninis (für meine Ohren zählen sie zu den gelungensten Aufnahmen dieses Dirigenten), wirkt aber noch strenger und, wenn man so will, lakonischer.

Die Vorteile sind ein weitgehendes Vermeiden von Pathos sowie von Dickheit, wie sie sonst oft durch Verbreiterungen des Tempos hervorgerufen wird, für mich besonders gelungen am Ende von langen forte-Passagen wie etwa im 4. Satz in den Takten vor N, die sonst leicht sogar etwas plump wirken können. Eine längerer Abschnitt, in dem diese Striktheit des Tempos der Komposition ganz besonders zu entsprechen scheint und den ich noch nie so überzeugend wie in dieser Aufnahme gehört habe, ist die 2. Hälfte der Exposition des 4. Satzes [vor allem zwischen den Buchstaben D und F].

Jedoch kommt es bei einer solchen Interpretationsweise auch leicht zu einem Mangel an Möglichkeiten für den Hörer, im Verlauf langer Zusammenhänge gelegentlich kurz Atem zu holen und einen verweilenden Blick auf einzelne Stellen zu werfen – aufgrund der meist abschnittsweisen Aufnahmeweise und der Schnitttechnik ist diese Wirkung bei Studioproduktionen wie den hier vorliegenden Aufnahmen oft noch wesentlich deutlicher ausgeprägt als in Konzerten. So käme dem Werk nach meiner Meinung vor allem im 1. und 3. Satz ein stärkeres Eingehen auf die Individualität einzelner Abschnitte unbedingt zugute. Zwar werden in diesen Sätzen die Vortragsvorschriften im Prinzip eingehalten, dabei häufig aber auch nur angedeutet, so dass es in Dynamik und im Tempo nur zu wenigen Extremen kommt und, wie ich finde, durch die Moderiertheit dieser Parameter die einzelnen Stellen als solche nur eine geringe Wirkung auf den Hörer entfalten können.


Große musikalische Bögen

Es ist wirklich erstaunlich und ungewöhnlich, einen wie großen Spannungsbogen Rattle vor allem im 1. Satz intensiv durchfühlen lässt – dieser musikalische Bogen umfasst den ganzen Satz. Seinen Höhepunkt legt Rattle auf das sforzato 4 Takte vor dem Beginn der Reprise [= 4 Takte vor Buchstabe J]. Das allerdings ist ein überraschend gewählter Punkt, mit dem ich mich bislang noch nicht recht anfreunden konnte, denn er fällt nicht mit dem dynamischen Höhepunkt zusammen, der sich, mit mehreren Takten fortissimo, bereits 12 Takte früher befindet.

In Zusammengehen mit der im vorigen Absatz beschriebenen Striktheit des Tempos entsteht dieser Spannungsbogen auf eine ungewöhnlich gleichmäßige Weise, die in ihrer Radikalität zweifellos wirkungsvoll ist. Die Zuhörer können sich der Unbedingtheit eines solchen interpretatorischen Ansatzes, den wir in jeweils etwas anderer Weise vom oben schon erwähnten späten Toscanini sowie, wenngleich nicht bei Brahms, von Pierre Boulez kennen, kaum entziehen. Aber es stellt sich gleichwohl die Frage, warum Rattle nicht auch ein paar andere Elemente einbaut, epische Ansätze verwendet, wo sie sich anbieten, und auf dem Weg zum Ziel zwar nicht gerade Umwege benutzt, so doch aber vielleicht den einen oder anderen Blick zur Seite riskiert.


Reduzierung ausdruckshafter Elemente

Dies würde dann vermutlich einige ausdruckshafte Elemente in die Interpretation hineinbringen, die in dieser Aufnahme doch etwas ins Abseits gedrängt erscheinen. Keineswegs möchte ich irgendeiner Sentimentalität das Wort reden, aber dem molto dolce am Schluss des 3. Satzes fehlt der Dolce-Charakter beinahe vollkommen, und das, nachdem die Berliner Philharmoniker den unmittelbar vorangehenden dolces weitgehend gerecht geworden sind.

Oder haben wir es, der Verdacht drängt sich auf, an dieser Stelle mit einer Kombination von Aufnahme-Takes zu tun, die von technischer Warte aus zusammen passen, musikalisch jedoch nicht zusammen gehören? Denn auch zu Beginn des 2. Satzes, und hier ist überdies der Schnitt in technischer Hinsicht nicht ganz gelungen, gibt es einen Ausdrucks-Bruch: nachdem die Celli das Eingangs-Thema mit großer Intensität vorgetragen haben, nehmen die Geigen es nur mit deutlich vermindertem Ausdruck wieder auf.