Donnerstag, 18. März 2010

Kongenialer Berlioz (»Symphonie fantastique« mit dem Boston Symphony Orchestra unter Charles Munch)

© Gernot von Schultzendorff 2010

POST vom 18. 03. 2010


Übersicht:

  • Kongenialität
  • »Fingergewohnheiten«
  • Das »Exzentrische« und das »Bizarre«
  • Eindrücke sui generis
  • Umgang mit dem Tempo
  • Metrisch ungebundener Ausdruck
  • Weitere Beobachtungen


In dem Blog Today`s Classical Music Video wird immer wieder auf Video-Perlen klassischer Musik aufmerksam gemacht, die auf YouTube zu finden sind. Das Thema am 12.2.2010 war der letzte Satz von Berlioz´ Symphonie fantastique mit dem Boston Symphony Orchestra unter Charles Munch – ein Video aus dem Jahr 1962, das vor einigen Jahren auch auf der Teldec-DVD The Art of Conducting – Legendary Conductors of a Golden Era veröffentlicht worden ist.

In diesem Post nun soll der erste Satz der Symphonie fantastique besprochen werden, der als Teil desselben Konzertmitschnittes, leider mit einem störenden zeitlichen Versatz zwischen Video und Audio, ebenfalls auf YouTube greifbar ist:

Url: http://www.youtube.com/watch?v=_s0wMe7bfMQ

sowie der Schluss des ersten Satzes:

Url: http://www.youtube.com/watch?v=lzCTUT8XdTs


Kongenialität

Auch wenn es selbstverständlich viele großartige Interpretationen klassischer Musik gibt und gegeben hat – nur in einigen sehr seltenen Fällen kam und kommt es zu einer wirklichen Anverwandlung der Musik eines Komponisten durch einen Interpreten, die vom Publikum als kongenial empfunden wird. Die gegenwärtigen Interpreten in dieser Hinsicht einzuordnen wäre sicher voreilig, und ich nenne lieber einige historische Namen in Verbindung mit bestimmten Kompositionen: Schuberts Klaviersonaten gespielt von Artur Schnabel, Chopins Etüden in der Interpretation Alfred Cortots, Maria Callas als Norma.

Im Zusammenhang mit dem Dirigenten Charles Munch wird immer wieder, nach meiner Meinung völlig zu Recht, das Außerordentliche und Besondere seiner Berlioz-Interpretationen hervorgehoben. Man mag vielleicht zögern, sie tatsächlich als kongenial zu bezeichnen, in jedem Fall aber vermitteln sie Einblicke in die Werke dieses Komponisten, die deren inneren Geist auf eine von anderen Interpreten nicht realisierte Weise erfassen und dem Hörer vermitteln.

Den Interpreten unserer Epoche scheint die Annäherung an dieses Werk nicht in einem solchen Maße zu gelingen. Eher als aktuelle Aufnahmen scheint mir eine noch ältere Einspielung dieses Werkes die Sphären allerhöchster Interpretationskunst zu erreichen, auf gepflegtere und wenn man so will bürgerlichere Weise als Charles Munch, es handelt sich um die Aufnahme mit Bruno Walter und dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire in Paris aus dem Jahr 1939.


»Fingergewohnheiten«

In seinen Mémoires schreibt Berlioz: »Ich kann dem Zufall danken, der mich in die Notwendigkeit versetzt hat, still und frei komponieren zu lernen. Er hat mich vor der für den Gedanken so gefährlichen Tyrannei der Fingergewohnheiten bewahrt.«

Das ist nun wirklich eine interessante Formulierung ästhetischer Wahrheiten. Denn diese »Fingergewohnheiten« überdecken ja tatsächlich leicht den »Gedanken«; bei Kompositionen spricht man gerne von dem, was »zwischen den Noten steht«, und das hat es, eben aufgrund der »Fingergewohnheiten«, in vielen Fällen schwer, zur Geltung zu kommen. Auch im interpretatorischen Bereich lässt sich sinnvollerweise von »Fingergewohnheiten« sprechen, mit denen die Interpreten zunächst einmal den reibungslosen Ablauf einer Aufführung sicherstellen, und oft haben es Interpretationsansätze, die nicht auf solchen »Fingergewohnheiten« beruhen, im musikalischen Alltag schwer, sich durchzusetzen, auch wenn sie der jeweiligen Komposition gemäßer wären als die den Musikern und den Hörern vertrauten Schemata.

Berlioz´ Symphonie fantastique nun scheint eine Aufführungsweise, die auf interpretatorische Art ebenfalls nicht von den »Fingergewohnheiten« ausgeht, ganz besonders angemessen zu sein; eben dies ist ein wichtiges Element, das zu dem besonderen Rang von Charles Munchs Berlioz-Interpretationen beiträgt.


Das »Exzentrische« und das »Bizarre«

»Der Vorwurf des ›Exzentrischen‹ und des ›Bizarren‹ gehörte, seit den frühen Kritiken von Fétis, zu den Grundvokabeln akademisch-konservativer Berlioz-Kritik, der französischen wie der deutschen«, lesen wir in Wolfgang Dömlings Buch Hector Berlioz – Die symphonisch-dramatischen Werke (1979). Und weiter: »Bei Schumann, dessen biedermeierliche Züge unübersehbar sind, [entsteht] Angst. ›Freilich soll die Kunst‹, heißt es einmal [bei Schumann], ›unglückliche Lebensoktaven und –quinten nicht nachspielen, sondern verdecken.‹ Und daher auch die treuherzige Mahnung an Berlioz, ›daß er das Excentrische seiner Richtung immer mehr mäßige‹.

Ein solcher Eindruck des »Exzentrischen« und des »Bizarren« wird zu einem nicht unerheblichen Teil auch von der Interpretation beeinflusst. Zugegeben, im fünften Satz der Symphonie fantastique, im Hexensabbat, wird kaum ein Interpret die Intentionen des Komponisten anders als eben bizarr auffassen und wiedergeben. Aber der erste Satz der Symphonie fantastique, betitelt »Rêveries« (Träumereien, Schwärmereien, Phantastereien), erklingt in unserer Zeit doch erstaunlich oft wie von einem klassischen Formideal beseelt, seltsam zahm und maßhaltend, als ob eben die Forderungen Schumanns wenn schon nicht in der Komposition, so doch in der Interpretation sich zu erfüllen hätten.


Eindrücke sui generis

Munch hingegen lässt in den »Schwärmereien« glutvolle Ausdrucks-Intensität verströmen, und nach meiner Meinung verwirklicht eben solch eine Darstellungsweise auf der Ebene der Interpretation in hohem Maße das, was Berlioz in seiner berühmten Instrumentationslehre zu Beginn des Kapitels »Die Instrumente« über Eindrücke sui generis schreibt – bei Berlioz betrifft das in diesem Kontext Fragen der Instrumentation, es lässt sich das Gesagte aber gut auf den Bereich der Interpretation übertragen: »Der Gebrauch dieser verschiedenen Klangelemente und ihre Anwendung – sei es, Melodie, Harmonie oder Rhythmus eine Färbung zu geben, sei es, Eindrücke sui generis hervorzubringen (motiviert durch eine Ausdrucksintention oder nicht), unabhängig von der Mitwirkung der drei anderen großen Mächte der Musik [damit meint er eben Melodie, Harmonie und Rhythmus] – konstituiert die Kunst der Instrumentation« [Übersetzung von Wolfgang Dömling].

Bei Munchs Interpretation nun handelt es sich nicht etwa nur um eine musikalische Wiedergabe des Notentextes, die diesen analog zum eben zitierten Text interpretatorisch färbt, nein, Munch nimmt das Stück entschlossen in die Hand, und lässt, ohne es im mindesten zu entstellen, die Wiedergabe zu einem ursprünglichen Erlebnis werden, er verleiht ihr eine Eindrücklichkeit sui generis.

Es ist eine interessante ästhetische Frage, ob nicht eben eine solche Interpretationsweise sui generis, wenn sie denn gelingt und nicht auf bloße Willkürlichkeit hinausläuft, das eigentliche Ziel des musikalischen Intepretierens zu sein hat. Diesem Ziel so oft wie möglich nahezukommen, ist, wie mir scheint, auch in der gegenwärtigen Phase der Entwicklung der Interpretation von großer Bedeutung. Denn das musikalisch-interpretatorische Niveau und die interpretatorische Erfülltheit haben zweifellos mitzuwachsen, wenn andere, im Grunde äußerliche Parameter der musikalischen Wiedergabe sich immer weiterentwickeln, wie wir es zum einen derzeit bei dem instrumentalen Niveau der jungen Musikergeneration beobachten, und wie man es zum anderen auch von vielen zu einer erstaunlichen Vollkommenheit (klanglich und in Bezug auf den Schnitt) produzierten Aufnahmen der jüngeren Zeit sagen kann.


Umgang mit dem Tempo

Die schiere Fülle an unterschiedlichen Tempi, die sich in Munchs Interpretation des ersten Satzes der Symphonie fantastique findet, erinnert durchaus an die Interpretationsweise Nikischs in seiner Aufnahme von Beethovens Eroica, beschrieben in einem meiner früheren Posts. Während dieses von Nikisch und Munch praktizierte Verfahren, Differenzierung und Komplexität durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Tempi herzustellen, in der Aufnahme Nikischs eher ein ästhetisch für sich selbst stehendes und wirkendes Interpretationsprinzip darstelt, steht es bei Munch, bedingt überdies durch die ganz andere Komposition, sehr viel mehr im Dienste des Ausdrucks, und es eignet den Tempowechseln bei Munch in mehreren Fällen auch etwas entschieden Schroffes.

Für Munchs manchmal geradezu wilde Beschleunigungen und Verlangsamungen kommen mir die Ausdrücke accelerando und ritardando, obwohl sachlich natürlich korrekt, nicht so recht angebracht vor, denn Charles Munch geht mit seiner Dirigierweise über den interpretatorischen Kontext, mit dem diese Bezeichnungen üblicherweise verbunden sind, wie ich finde weit hinaus. Auch sind in mehreren Fällen die kräftigen Tempoaktionen Munchs und des Orchesters in der Partitur gar nicht eingezeichnet, sie sind, in einer verbreiteten Ausdrucksweise, von ihr nicht »gedeckt«.

Sie deshalb aber als »Freiheiten« bezeichnen, die der Interpret sich nimmt, wäre eine in diesem Fall wenig treffende Ausdrucksweise, denn es ist gerade Munchs Umgang mit dem Tempo, der der Musik in so besonderem Maße zu entsprechen scheint - so als ob der Interpret es in diesem Fall tatsächlich noch besser weiß als der Komponist, als ob er also optimale interpretatorische Lösungen gefunden hat, auf die der Komponist bei der Einrichtung der Partitur nicht gekommen ist.

Ein gutes Beispiel hierfür ist die bei Takt 43 beginnende Synkopenstelle, wir erleben bei Charles Munch ab diesem Takt eine starke Beschleunigung nach vorangegangener erheblicher Zurücknahme des Tempos (im ersten Video von 3:28 bis 3:44). Keine dieser beiden sehr deutlichen Tempoänderungen ist in der Partitur verzeichet, und doch werden dem Hörer gerade erst durch sie die immer wieder sich ändernden Gedanken, denen der seelisch leidende Künstler aus dem Programm der Symphonie fantastique nachhängt, so richtig deutlich und nachvollziehbar.


Metrisch ungebundener Ausdruck

Individuell wirkender Ausdruck in der musikalischen Interpretation macht sich stets bemerkbar durch musikalische Aktionen, die den Hörerwartungen nicht ganz entsprechen – Ausdruck in starker Intensität muss es also gelingen, sich von gewissen Vorgaben, vielleicht könnte man sogar sagen: von gewissen Fesseln zu lösen. Als eine solche Fessel kann unter anderem das musikalische Metrum wirken, und starker Ausdruck mag dann nicht nur dadurch entstehen, dass der Eindruck des Zählens durch die Musiker erfolgreich vermieden wird und dass das Metrum für den Hörer unmerklich wird, indem es in musikalischen Gestalten aufgeht (ein gutes Beispiel hierfür sind die Takte 24 – 26, im ersten Video ab 2:18). Vielmehr kann der Eindruck starken Ausdrucks auf einer hohen interpretatorischen Stufe auch durch subtil nuancierte Abweichungen der Platzierung der Töne und Akkorde von den zeitlichen Vorgaben des Metrums hervorgerufen werden, die zu einer Abschwächung der Wirkung des Metrums überhaupt führen und dem einzelnen Ton oder Akkord eine höhere Bedeutung verleihen. Denn die Vorgaben, die das Metrum der zeitlichen Platzierung von Tönen und Akkorden macht, entsprechen kaum der Spontaneität und der Vagheit menschlicher Gefühle, die sich ja jeder Steuerung und Determinierung entziehen und die bei ihrer Simulation durch Schauspieler oder Musiker um so authentischer wirken, je mehr von einer solchen Spontaneität und Vagheit sich dem Hörer vermittelt (ausdrücklich spricht Berlioz in seinem Programm zur Symphonie fantastique von »vague des passions«).

Die eigenwillige und individuelle Dirigiertechnik Munchs (bei ihm stehen die vertikalen Bewegungen deutlich im Vordergrund, beispielsweise im ersten Video bei 5:58 und 6:55 sowie im zweiten Video bei 1:45 und 2:08) scheint mir in erheblichem Maße im Dienste einer solchen Art von Ausdruck zu stehen – er dirigiert an manchen Stellen einzelne Töne, einzelne Akkorde auf eine Weise, die ihre Gebundenheit in einen Taktzusammenhang unkenntlich zu machen versucht, am offensichtlichsten im ersten Video bei 1:21 bis 1:25 (Takt 12) und im zweiten Video bei 2:26 bis 2:28 (Takte 487–489). Eben dadurch ist es ihm möglich, ihren Zusammenhang mit dem Metrum zu lockern und sie in der beschriebenen Weise ausdrucksmäßig wirken zu lassen.


Weitere Beobachtungen

In der Schluss-Stretta kommt es, im zweiten Video bei 2:17 bis 2:23 (Takte 475 – 482, Ziffer O1), zu einem Fall von einem in der Spielweise gegenüber der Notation versetzten und dadurch falsch dargestellten Metrum; diese Thematik wird ausführlich in meinem Vortrag »Verständlichkeit des Metrums« dargestellt. Munch dirigiert an dieser Stelle die Zählzeit 2 deutlich als neuen metrischen Schwerpunkt, eine zweifellos weit verbreitete, aber dennoch das Metrum verfehlende interpretatorische Praxis, die die vom Komponisten intendierte Komplexität der Passage um eine ganze Dimension verringert.

Nicht zuletzt unter kulturhistorischen Gesichtspunkten interessant ist die heutzutage fast befremdlich anmutende körperliche Beherrschtheit, ja geradezu Steifheit, mit der die Orchestermusiker ihre Darbietung ausführen. Am meisten bewegen sich noch 2 vor den Pauken sitzende Geiger (ab 2:56 im Bild des ersten Videos), sowie die Flötistin und, in geringerem Maße, der Oboist (ab 6:16). Es passt zu diesem Bild, dass die Interpretation den Hörer einerseits auf das Stärkste beeindruckt, andererseits aber über ein gewisses Maß des »den Hörer Berührens« nicht hinausgeht. An bestimmten Stellen steht sie zwar kurz davor, beim Hörer eine Art innerliche Erschütterung (siehe auch mein Post zu diesem Thema) auszulösen, entscheidet sich im entscheidenden Moment aber doch für die emotionale Beherrschtheit. Für eine über solche Beherrschtheit hinausgehende emotionale Wirkung wäre eine zusätzliche Dehnung der musikalischen Zeit erforderlich, die vermieden wird; Beispiele sind im ersten Video die schon erwähnte Stelle bei 2:19 (Takt 24, Ziffer C) und im zweiten Video der Übergang zu der »Religiosamente« überschriebenen Schlusspassage bei 3:20 (Takt 511, Ziffer R1).