Sonntag, 19. Juli 2009

Erschütterung und Inniglichkeit beim Hören von Musik

© Gernot von Schultzendorff 2009

POST vom 19. 7. 2009

Erschütterung und Inniglichkeit beim Hören von Musik


Übersicht:

taz-Artikel über Holger Schäfer (Minnesänger)
Videos
Erschütterung durch Musik
Vorstufe der Erschütterung: Das Berührt-Sein
„Inneres Verstehen“ der Musik
Unsagbarkeit – Qualia
Innerlichkeit
Inspiration
Resümee

In einem Porträt des Minnesängers Holger Schäfer in der taz spricht dieser der klassischen Musik das durch „innig[es] Musik machen“ entstehende „innerliche Erschüttert-Sein“ ab, „so etwas gebe es […] höchstens bei Chören, im Folk und natürlich beim Minnesang.“

Dieser Blog-Beitrag stellt den taz-Artikel illustrierende Youtube-Videos vor, gibt einen Überblick über im Zusammenhang mit Inniglichkeit und Erschüttert-Sein wichtige Themen und Begriffe und macht Vorschläge zu einer Kategorisierung dieser Begriffe.


taz-Artikel über Holger Schäfer (Minnesänger)

aus „Das Ziel ist absolute Innigkeit“ – Porträt Holger Schäfers von Tim Meyer in der taz Nord vom 16.7.2009, S. 27 (http://www.taz.de/regional/nord/nord-aktuell/artikel/1/das-ziel-ist-absolute-innigkeit/):

Holger Schäfer greift sich seinen Laptop, ruft Youtube auf und sucht ein Video des Freiburgerr Barockorchesters: „Brandenburg Concertos No.4 – i: Allegro“ von Bach. Perfekt gespielt, aber die Gesichter sehen kühl aus. „So könnte ich mich auch hinstellen und spielen“, sagt er. „Aber das innerliche Erschüttert-Sein, das gibt es hier nicht. Alles ist durchgestylt.“

Dann holt er wieder das Blatt Papier, malt zwei Gruppen mit kleinen Kreisen: „Das sind die Musiker, das ist das Publikum“ Er beschreibt, was passiert, wenn sich Musiker auf ihr Profil, auf sich alleine, konzentrieren. Dann sind sie für sich und faszinieren das Publikum mit ihrem Können. Wenn sie dagegen innig Musik machen würden, könnten sie gemeinsam mit dem Publikum zu einer Einheit verschmelzen. „So entsteht ein Kraftfeld, ein Wir“, sagt Holger Schäfer. Aber so etwas gebe es nicht in der klassischen Musik, sondern höchstens bei Chören, im Folk und natürlich beim Minnesang.

Das ist das Ziel von Holger Schäfer beim Musikmachen: Das Profil, die Konzentration auf die Intonation eines einzelnen Tons, immer weniger wichtig zu nehmen, es geschehen zu lassen und in der Innigkeit aufzugehen. Er nennt es „Spiritualität“.

Videos

1. Das Video, auf das sich Holger Schäfer bezieht:

J. S. Bach: Brandenburgisches Konzert Nr. 4, 1. Satz – Allegro mit dem Freiburger Barockorchester

URL: http://www.youtube.com/watch?v=MDrLX7FXba4

Dieses Video leidet in seiner Youtube-Version unter einem gewaltigen Versatz (mehr als eine halbe Sekunde) zwischen Audio und Video, so dass der Betrachter keine musikalische Korrelation zwischen den Bewegungen und der Musik mehr herstellen kann. Es handelt sich ansonsten um eine typische, durchaus hochklassige „Studio“-Video-Produktion, bei der vermutlich das Audio mit einer Reihe von Schnitten zur gewünschten Perfektion gebracht wurde.

2. Dass auch in der klassischen Musik wesentlich lebendigere und faszinierendere Darbietungen möglich sind, zeigt dieses Video:

G. Ph. Telemann: Konzert für Blockflöte, Traverso und Orchester, TWV 52:e1 mit dem Ensemble Matheus

URL: http://www.youtube.com/watch?v=ipdSzDfhJA4

Das Video ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Herstellung von Lebendigkeit bei der Wiedergabe von Musik den Musikern in der Live-Situation oft leichter fällt. Vielen Dank an Avior Byron, der mich in seinem Blog auf dieses Video aufmerksam machte.

3. Von Holger Schäfer existiert bei Youtube keine zusammenhängende Aufnahme, nur ein Kurzporträt sowie 2 Berichte über den Minnersänger-Wettstreit 2008 in Clingenburg, aus dem er als „Minnesänger des Jahres 2008“ hervorging.

3.a. Videoporträt Holger Schäfer

URL: http://www.youtube.com/watch?v=XCcpisyxJw0

3.b. Minnesängerwettstreit 2008 in Clingenburg

URL: http://www.youtube.com/watch?v=grSnnoUXQH0

URL: http://www.youtube.com/watch?v=8DMU0bwPDfI

(Eine Einbettung in das Blog ist leider nicht möglich)

Erschütterung durch Musik

Holger Schäfer spricht sicher einen charakteristischen, manche würden vielleicht sogar sagen: wunden Punkt in der Musikpraxis der klassischen Musik an, wenn er sagt, das innerliche Erschüttert-Sein gebe es in der klassischen Musik nicht. Ganz recht hat er damit sicherlich nicht; wer etwa in ihrer besten Zeit Maria Callas erleben konnte, war gewiss erschüttert von ihren Darbietungen (eine Ahnung davon vermittelt das Video http://www.youtube.com/watch?v=tmN8YT9Avg4). Aber der Callas in der Tiefe und Intensität ihrer Darstellung und ihres Gesangs wirklich vergleichbare Künstler gibt es derzeit nicht, und bereits ihre zahlreichen Studioaufnahmen beindrucken zwar durch Intensität und Perfektion, gehen dem Hörer jedoch nicht wirklich nahe.

Vorstufe der Erschütterung: Das Berührt-Werden

Jedoch gehen wir als Besucher von Konzerten zwar nicht immer, aber doch häufig oder zumindest gelegentlich innerlich erfüllt nach Hause, und das heißt dann letztlich, dass wir von den musikalischen Darbietungen zwar wohl nicht erschüttert, aber doch berührt wurden. Das kann verschiedene Ursachen haben, auch Lebendigkeit, Perfektion und Virtuosität können nicht nur beeindrucken, sondern den hierfür empfänglichen Hörer berühren (wenngleich sicher nicht erschüttern). Wichtiger jedoch für das Berührt-Werden aber ist eine im Grunde nicht beschreibbare Qualität der Darbietung, die in starkem Maße von der Fähigkeit der Künstler abhängt, einerseits tief in die Musik einzudringen, andererseits dieses eigene Eindringen in die Musik in der Darbietung selbst umzusetzen und es dadurch den Hörern zu vermitteln.

„Inneres Verstehen“ der Musik

Sehr hilfreich für das Verständnis der hieran beteiligten Vorgänge scheint mir der vom Dirigenten Paavo Järvi gebrauchte Begriff des „inneren Verstehens“ von Musik zu sein. Järvi berichtet über die Unterschiede zwischen den beiden von ihm geleiteten Orchestern in Frankfurt und Cincinatti: „ Was ich hier in Frankfurt lerne, möchte ich in Cincinnati zur Anwendung bringen und umgekehrt. Dem deutschen Orchester fehlt manchmal die letzte Spur Brillanz, aber die Musiker haben mehr von dem, was ich »inneres Verstehen« nennen möchte. In Amerika sieht das Problem dagegen genau anders herum aus“ (http://www.musicincincinnati.com/site/news/Mile_High_Paavo_Brings_Cincinnati_Symphony_to_Frankfurt.html).

Unsagbarkeit - Qualia

Um welche vom Hörer wahrnehmbare Qualitäten wird die musikalische Darbietung bereichert in einer vom „inneren Verstehen“ der Musiker geprägten Interpretation? Wie oben schon angesprochen entziehen sich diese Vorgänge weitgehend der Beschreibung, es ist deshalb in der Literatur gelegentlich die Rede von dem „Topos der Unsagbarkeit“ (engl.: „ineffability“). Die Objekte des Unsagbaren werden als „Qualia“ bezeichnet und sind Gegenstand einiger Untersuchungen. „Quales are those qualities of immediate human experience which cannot be conceptualized and are of private, individual, irreproducible and antilexical nature, such as colors, sounds, hunger, anger, sadness, or happiness. Raffman [in Raffman, D.: Language, Music and Mind, 1993] argues that musical experience is strongly related to quales and therefore shares strongly ineffable characteristics” (Mazzola, G.: The topos of music: geometric logic of concepts, theory and performance, Basel 2002, S. 693).

Innerlichkeit

Das Vorhandensein „unsagbarer“ Qualitäten in einer Musikdarbietung also scheint eine wichtige Voraussetzung zu sein dafür, dass die Hörer innerlich berührt werden können von der Interpretation. Soll es aber zu einer Intensivierung dieser innerlichen Berührung kommen, muss darüber hinaus das hinzutreten, was Holger Schäfer mit dem Begriff „Innerlichkeit“ mit ins Spiel bringt, es muss beim Hörer der Eindruck entstehen, dass diese Qualia-Qualitäten nicht etwa nur als einstudierte Gesten in die Darbietung eingebracht werden, sondern im Moment der Darbietung auch tatsächlich vom Künstler empfunden werden. Übersteigt die vom Künstler eingebrachte und den Hörern übermittelte Empfindung dann in erheblichen Maße das, was die Hörer in ihrem normalen Leben an Empfindungs-Intensität erleben, so kann es in manchen Fällen tatsächlich zu einer „Erschütterung“ des Hörers durch die Musik kommen.

Inspiration

Tatsächlich verkürzt die in dem Artikel wiedergegebene Argumentation Holger Schäfers den Sachverhalt um einen wichtigen Punkt: „Das Profil, die Konzentration auf die Intonation eines einzelnen Tons, immer weniger wichtig zu nehmen“ – das findet keineswegs exklusiv im Chorgesang, im Folk und im Minnesang statt, sondern das ist ganz generell ein wichtiger Bestandteil des in der Musikdarbietung so wichtigen Vorgangs der Inspiration, ohne den eine gute Interpretation gar nicht stattfinden kann. Die Konzentration auf einzelne technische Probleme der Interpretation hat stattzufinden in den Proben und nur eben eine entsprechende Vorbereitung und Probenarbeit kann im Moment der Darbietung die Inspiration ermöglichen, denn diese ist nur möglich im Zustand der gedanklichen und innerlichen Ablösung von solchen technischen Aspekten. Auf diesen inspirierten Zustand sollte im Idealfall das innige Musik machen aufsetzen und ihn, wie oben beschrieben, um die spirituelle Dimension bereichern.


Resümee

Aber vielleicht ist das anders in der Szene der mittelalterlichen Musik, in der sich durchaus einige Musiker finden, die man aus der Sichtweise der klassischen Musik als Liebhaber bezeichnen würde. Holger Schäfer hingegen, das lassen die kurzen Ausschnitte in den Videos deutlich erkennen, macht zweifellos auf professionelle Weise Musik – und dazu dürften auch gründliche Proben gehören. Seine Eigenart, die ihn wohl der klassischen Musik entfremdet hat und ihn im Minnesang eine neue musikalische Heimat finden ließ, dürfte der hohe Stellenwert der Spiritualität sein, mit der er seine Zuhörer im Minnesang in seinen Bann zu ziehen versteht.

Die klassische Musikszene wiederum weiß mit solcher Gewichtung von Begabung und Fähigkeiten nicht immer gut umzugehen. In erheblichem Maße stehen hier die Beherrschung des Technischen sowie die Perfektion bei der Darbietung im Vordergrund. Während diesbezüglich in der Musikausbildung eine wichtige Rolle spielt, dass sich diese Faktoren eben gewissermaßen messen lassen und auf diese Weise eine „objektive“ Bewertung zu ermöglichen scheinen, dürfte auf Seiten des Publikums bei einigen Hörern auch eine Scheu vor allzu bewegenden Darbietungen, sowie bei manchen Kritikern ein weit gehender Intellektualismus zu einer manchmal erstaunlich positiven Bewertung wenig bewegender Musikdarbietungen führen.

1 Kommentar:

  1. Kommentar von Holger Schäfer
    Ich bin verblüfft und bewegt, dass mein Artikel in der TAZ solcherlei Resonanz hervorgerufen hat. Es ist schön, das Thema in solchem Kontext aufbereitet zu sehen. Ich kann und konnte das Thema nur in Bezug auf meine eigene Situation formulieren. Diese befindet sich tatsächlich im Moment im Spannungsfeld: Professionalität und Innigkeit, Herauffahren der Persönlichkeit durch handwerklich und technisch Gute Musik. Und auf der anderen Seite: Zurücktreten der Persönlichkeit, Raum geben und möglichst vollkommenes Aufgehen in der Stimmung und der Unsagbarkeit hinter/in der Musik.
    Daraus eine Formulierung für die gesamte Musizierpraxis zu finden, einen Impuls in der Art dieses Artikels hier, ist ein Verdienst, wie ich finde.
    In diesem Sinne herzliche Grüße von mir.
    Holger Schäfer, Minnesänger, Blockflötist, Cembalist, Chorleiter.

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