© Gernot von Schultzendorff 2009
POST vom 17. 8. 2009
CD - Kritik
Vivaldi: La fida ninfa / Jaroussky, Cangemi, Lemieux, Regazzo, Piau, Lehtipuu, Mingardo, Senn / Ensemble Matheus / Jean-Christophe Spinosi
Daran anknüpfende Themen:
- Individualität in der Musizierweise von Solisten und Ensembles
- Stiefkind Rezitativ?
- Lebendigkeit in Studioaufnahmen
In einigen Jahren, im historischen Rückblick, dürfte das Ensemble Matheus als besonders wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der Interpretationskunst im Bereich der Barockmusik betrachtet werden. Die wichtigsten Impulse der historischen Aufführungspraxis der letzten Jahrzehnte werden zusammengefasst und mit einer atemberaubenden Lebendigkeit sowie höchster Musikalität zur Darbietung gebracht.
Folgendes YouTube Video des Duetts „Dimmi pastore“ mag, trotz des eigentlich unbefriedigenden Klanges, Interessierte auf den Geschmack bringen, und auch eine Vorstellung von den ergänzenden darstellerischen Möglichkeiten bei einer Aufführung geben, die dem reinen Audio naturgemäß verschlossen sind:
Individualität in der Musizierweise von Solisten und Ensembles
Lebendigkeit und individuelle Zeichnung der Musik sind Felder der musikalischen Interpretation, bei denen, allgemein betrachtet, Solisten (Instrumentalisten und Sänger) meist deutlich mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen als einem naturgemäß eher schwerfälligeren Ensemble. In einer guten Interpretation allerdings wird beim Zusammenspiel stets darauf geachtet werden, dass die auf diese Weise entstehende Diskrepanz ein gewisses Maß der Auffälligkeit nicht überschreitet.
Bei dem so lebendig spielenden und individuell zeichnenden Ensemble Matheus nun sind die Verhältnisse etwas anders. Für meine Ohren und meinen Geschmack sind von den Solisten der famose und so hintergründige Philippe Jaroussky und die großartige Verónica Cangemi noch ausdrucksstärker und reaktionsschneller als das Ensemble Matheus; die übrigen Sängerinnen und Sänger bieten eine sehr bemerkenswerte Leistung, die an musikalischer Lebendigkeit vom Ensemble Matheus jedoch noch übertroffen wird.
Nun mag dies fast nach einem Wettstreit zwischen den beteiligten Musikern klingen, davon jedoch kann in keiner Weise die Rede sein und das eben Dargelegte dient lediglich zur genaueren musikalischen Charakterisierung der Darbietung. Tatsächlich ist gerade das Zusammen-Musizieren und die Ensembleleistung ganz besonders hervorzuheben. Diese Aufnahme realisiert einen Grad der musikalischen und klanglichen Umsetzung des Notentextes, den man gemeinhin kongenial nennt, und stellt einen besonderen Glücksfall der Aufnahmekunst dar.
Einige kleine Anmerkungen sollten dennoch erlaubt sein:
Die klangliche Umsetzung dieser Aufnahme bewegt sich auf sehr hohem, der Interpretation angemessenem Niveau. Vielleicht wären der Verzicht auf ein letztes Quentchen des recht üppigen Halls und eine etwas weniger starke Betonung der an Raumresonanzen reichen Tiefen allerdings musikalisch noch überzeugender gewesen; bezüglich der Balance scheint mir das Cembalo gelegentlich erstaunlich leise geraten zu sein. In dem Duett „Dimmi pastore“ kann sich Marie-Nicole Lemieux nicht so gut durchsetzen wie Philippe Laroussky, die Balance im YouTube-Video (trotz der sonstigen Begrenztheit des Klanges) funktioniert in dieser Beziehung überzeugender.
Stiefkind Rezitativ?
So erfreulich die Weiterentwicklung der historischen Aufführungspraxis im Allgemeinen ist, scheint, seit es Aufnahmen gibt, die Kunst des Rezitativs sich der musikalischen Überzeugungskraft von Arien nicht wirklich annähern zu können. Was die hier besprochene Aufnahme anbelangt, leisten in den Rezitativen erneut Jaroussky und Cangemi Außerordentliches, ihre enorme Flexibilität und intensive Charakterisierungsfähigkeit auf kleinstem Raum lässt fast keine Wünsche mehr übrig. Bei einigen anderen Rezitativen jedoch kommt die musikalische Ausdruckskunst nicht ganz an die der jeweils folgenden Arien heran; Rezitative laufen ja stets Gefahr, nicht mit der Aufmerksamkeit behandelt zu werden, wie sie den Arien zuteil wird. Bei dieser Art von Oper jedoch machen die Rezitative ungefähr die Hälfte der Gesamtspielzeit aus und benötigen in einer reinen Audio-Aufnahme, die ohne das visuelle Element auskommen muss, ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und Deutlichkeit, ja eigentlich Überdeutlichkeit.
Das ist bei dieser Aufnahme natürlich eine Anmerkung, die sich auf ein allgemein äußerst hohes musikalisches Niveau bezieht, es gibt hier keine nicht gelungenen Passagen, und man wird als Hörer der gesamten Aufnahme keinesfalls versucht sein, einzelne Rezitative zu überspringen, um etwa ohne Rezitativ gleich die nächste Arie zu hören.
Lebendigkeit in Studioaufnahmen
So kann man nur staunen über die hohe Lebendigkeit, die hier erreicht wird und der man sonst meist nur bei besonders geglückten Konzerten begegnet. Normalerweise springt bei Aufnahmen, insbesondere bei Studio-Produktion, der musikalische Funke nur sehr selten in diesem bemerkenswerten Maße über – das Publikum muss hier von den Musikern ja imaginiert werden, und es muss trotz der Abwesenheit eines Publikums gelingen, sich von allen Gedanken an die zu bewältigenden technischen Probleme frei zu machen.
Dabei übertrifft das Ensemble Matheus bei seinen Konzerten offenbar noch die auf den Aufnahmen erreichte Lebendigkeit, ohne dass erwähnenswerte oder gar bedauerliche Einbußen bei der Perfektion zu beobachten wären, anders als die eher seltenen Fälle von Musikern und Ensembles, die sich im Schutz des Studios eigentlich wohler fühlen als in Konzerten, so dass deren auf Aufnahmen realisierte Leistungen in Konzerten dann nur selten auf entsprechendem Niveau reproduziert werden können.
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