Dienstag, 26. Mai 2009

Ligeti Lontano, Bruckner 7, zeitliche Dehnungen und Pathos

© Gernot von Schultzendorff 2009

BLOG vom 20.4.2009

 

Konzert des Staatsorchesters Hannover in der Staatsoper Hannover am 19.4.2009

Dirigent: Andrés Orozco-Estrada

 

Programm:

  • G. Ligeti: Lontano
  • A. Bruckner: Symphonie Nr. 7

Daran anknüpfende Themen:

  • Zeitliche Dehnungen, wenn „viel passiert“, und Pathos


Großer Enthusiasmus bei Publikum und Orchester über dieses gelungene Dirigat. Der junge Kolumbianer Orozco-Estrada hatte viel Vertrauen in die Stücke, das Orchester und das Publikum, gab der Musik alle erforderliche Zeit, sich zu entfalten und wurde vom Orchester mit größter Kooperationsbereitschaft belohnt.

 

Ligeti: Lontano

[Vergleichsaufnahmen:

  • Berliner Philharmoniker unter Jonathan Nott, aus dem Ligeti Project Vol. 2 bei Warner;
  • Wiener Philharmoniker unter Claudio Abbado, auf der CD Wien Modern bei der DG.] 

Das Werk, 1967 komponiert, würde auch wunderbar in Kubricks Kultfilm „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968) passen, für den der Regisseur jedoch 3 andere Werke Ligetis verwendete. Lontano war dann Filmmusik in Kubricks „Shining“ (1980).

Die Aufführung realisierte bewunderungswürdige Klangfelder, die sich so nur im Konzert, nicht jedoch auf Stereo-Aufnahmen verwirklichen lassen. Auch das Entfernte, das der Titel Lontano fordert, wirkte weitgehend umgesetzt, nur wenige Einsätze und Abschlüsse waren etwas überdeutlich.

Auf der CD aus Wien lässt die große Räumlichkeit das Stück ganz übertrieben aufgeblasen erscheinen, ein künstlicher Raumklang tritt in Konkurrenz zu den Klängen des Orchesters, dessen Wirkungen sich nicht mehr frei entfalten können. Anders die Berliner Aufnahme mit zurückhaltender Räumlichkeit und erheblicher Distanz, die geradezu ideal erscheint, nur einige nicht genügend eingebettete Streichertremoli stören das  Bild.

Man fragt sich allerdings beim Hören der genannten Aufnahmen und der heutigen Aufführung, ob mehr Variabilität und Flexibilität im Ablauf des Pulses dem Stück nicht noch gerechter würden.

 

Bruckner: Symphonie Nr. 7

[Vergleichsaufnahme:

  • SWR Sinfonieorchester unter S. Celibidache (1971), veröffentlicht bei der DG;
  • sowie die Erinnerung des Autors an eine Aufführung dieses Werkes in Hannover mit dem Concertgebouw Orkest unter Eugen Jochum im Jahr 1987, ein Vierteljahr vor seinem Tod.]

Tatsächlich eine Aufführung, wie man sie sich in einem hannoverschen Abonnementskonzert nicht besser wünschen könnte. Große Musikalität der Phrasierung und, wie oben schon erwähnt, besonders eindrucksvoll die Zeit, die die Phrasen zum Ausklingen erhielten.

Zwar scheinen Tempoübergänge nicht die größte Stärke Orozco-Estradas zu sein, jedoch gelangen sie durch die große Aufmerksamkeit des Orchesters auf musikalische und spannungsreiche Weise.

Bewunderungswürdig war die Klangbalance, Orozco-Estrada hatte den Mut, an verschiedenen Stellen die Pauke und im Schlussteil des ersten Satzes auch die Streicher im Klangbild fast verschwinden und dann wieder auftauchen zu lassen – mit großem künstlerischen Erfolg.

Celibidache und Jochum geben in ihren Aufnahmen insbesondere den Eingangsthemen der Sätze erheblich mehr Größe und Gültigkeit, jedoch ist die „Bescheidenheit“ der in Hannover gehörten Interpretation nicht weniger plausibel und möglicherweise der überlieferten Persönlichkeit Bruckners selber noch angemessener.


Zeitliche Dehnungen und Pathos 

Celibidaches Aufnahme von Bruckners 7. ist ein ungewöhnlicher Glücksfall der Interpretationsgeschichte: Nicht nur bauen sich lange Spannungsbögen ohne jede Brüche auf, nicht nur realisiert Celibidache staunenswert musikalische und das Werk zum Sprechen bringende Temponuancen und Tempowechsel, sondern es lässt sich an vielen Stellen auch anschaulich erleben, wie dann, wenn „viel passiert“, die musikalische Zeit langsamer wird gegenüber der metronomischen Zeit, auf völlig selbstverständliche und unauffällige Weise.

Celibidache wurde einmal gefragt: Hat Furtwängler das Geheimnis seiner tiefgehenden Interpretationen verraten?
Seine Antwort: »Ja. Ich fragte ihn: ›Herr Doktor, warum werden Sie hier so breit?‹ Seine Antwort: ›Ja, aber hören Sie denn nicht, wieviel los ist?‹ Das wars.«

In Celibidaches Aufnahme der 7. Symphonie Bruckners kommt dieser souveräne Umgang mit der musikalischen Zeit auf Schönste zur Geltung.

Warum bekommen wir eine solche Art von interpretatorischer Vertiefung  der Komposition so selten zu Gehör? Offenbar ist diese Weise des Musikmachens in Misskredit geraten. Im aktuellen Heft der Zeitschrift Fonoforum (5/09) lesen wir in einem Interview mit dem Dirigenten Martin Haselböck auf S. 51: „Kolisch und Leibowitz waren die Ersten, die dem Pathetisieren entgegengearbeitet haben. Denn im 19. Jahrhundert war die Vergrößerung des Klangs mit dessen Verlangsamung einhergegangen.“

Seit dem Durchmarsch der „werktreuen“ Interpretationen in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts sind der Pathetisierung verdächtige Spielweisen weitgehend verpönt. Das Pendel hat dabei weit über ein musikalisch sinnvolles Maß hinaus in die Gegenrichtung ausgeschlagen. Nicht nur die von Celibidache und Furtwängler vermuteten, auch andere grundlegende hörphysiologische Zusammenhänge werden von dieser Entwicklung immer wieder außer Acht gelassen:

Hohe Lautstärken erfordern, wenn ein Tempo als gleichschnell wahrgenommen werden soll, ohnehin eine Verlangsamung des metronomischen Tempos. Akzente lassen sich in zwei Ausführungsweisen realisieren, auf dynamische und zeitliche (verlängernde) Weise (meist kommt es zu einer Mischform); bei Orgel und Cembalo, beides Instrumente ohne unmittelbare Dynamik, müssen die Musiker ohnehin ausschließlich mit dem Mittel des zeitlichen Akzents arbeiten.

Das vom Hörer wahrgenommene Tempo orientiert sich ja nicht am Metronom, es ist vielmehr in erheblichem Maße abhängig von objektiven hörphysiologischen Gegebenheiten sowie von seinem musikalischen Erleben, also vom musikalischen und interpretatorischen Inhalt des Gehörten. Offenbar traf die Tabuisierung des Verlangsamens jedoch einen Nerv der Zeit, man hatte sich sattgehört an diesem Kunstmittel, jedenfalls an seiner übertriebenen Verwendung, denn erst durch übertriebenen oder falschen Gebrauch wird die Verlangsamung zum Pathos. Eine häufige Form des falschen Gebrauches ist es, wenn durch Verlangsamung beim Hörer der Eindruck erzeugt werden soll, dass „viel passiert“, dieser Eindruck durch das jeweilige kompositorische und interpretatorische Umfeld aber nicht gestützt wird.

An die Stelle der hier gemeinten gewissermaßen lokalen Verlangsamung innerhalb einzelner Takte oder einzelner Phrasen (der Begriff „Rubato“ hat eine etwas andere Bedeutung) trat in den 50er Jahren die viel großflächigere starke tempomäßige Differenzierung zwischen den formalen Abschnitten. Auch hierbei kam es natürlich zu erheblichen Übertreibungen, und in einem späteren Blog soll Glenn Goulds Unbehagen hieran untersucht werden: Seine Tempogestaltung von Brahms’ 2. Klavierkonzert verweigerte sich beim Seitenthema des 1. Satzes dieser Gewohnheit der starken Verlangsamung und führte (unter anderem) zur skandalumwitterten Distanzierung des Dirigenten Leonard Bernstein von der gemeinsamen Interpretation.

Auch die historische Aufführungspraxis hat dieses von der „werktreuen“ Interpretationspraxis tabuisierte Terrain noch nicht wirklich zurückgewonnen, wenngleich sich Martin Haselböck von diesem Tabu im oben schon zitierten Interview schon vorsichtig distanziert: „Auch bei den Sinfonien [Beethovens] habe ich die Metronomangaben zwar als Grundlage genommen, aber im Verlaufe der Beschäftigung gespürt, dass die Tempi sich für mich ganz persönlich entwickelten, dass ich an manchen Stellen schneller bin, an anderen langsamer.“

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