Dienstag, 26. Mai 2009

Haydn-Oper, interpretatorische Mittel, "interpretatorisches Mitdenken" der Hörer

© Gernot von Schultzendorff 2009

BLOG vom 14. 5. 2009

Rechtsbündig

Die Haydn-Oper „Orlando Paladino“ und Interpretationsfragen


Rezension der Aufführung an der Berliner Lindenoper (Dirigent: René Jacobs) in der Neuen Zürcher Zeitung vom 13. 5. 2009 von Peter Hagmann. http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/joseph_haydns_zauberfloete_1.2545570.html


Vergleichsaufnahme:

  • Contentus Musicus Wien, Nicolaus Harnoncourt (2006).

Themen:

  • Interpretatorische Mittel
  • Harmonische Einfachheit
  • Der Musik helfen durch die Interpretation, „interpretatorisches Mitdenken“ der Hörer


Es ist Haydn-Jahr, und dieser wunderbare Komponist, dessen Musik im üblichen Konzertbetrieb sonst eher zum Aufwärmen ge- oder gar missbraucht wird, steht häufiger als sonst auch im Mittelpunkt mancher Programmgestaltung. 16 Opern hat er geschrieben, „viele davon wurden in ganz Europa nachgespielt“, wie wir bei Peter Hagmann lesen, aber „heute hat man seine liebe Mühe mit dieser Musik.“ Hagmann schreibt über die Aufführung des Orlando Paladino in Wien vor 2 Jahren, „wo Nikolaus Harnoncourt ein fulminantes, doch letztlich vergebliches Plädoyer für [dieses Werk] hielt“, und von der aktuellen Aufführung in Berlin berichtet er, dem Dirigenten René Jacobs, einem „äußerst kreativen Querdenker, gelänge es vielleicht, die verschlossene Tür aufzustoßen und uns eine Oper von Haydn neu erleben zu lassen. Allein, es blieb bei der Hoffnung.“ 

Was geht hier schief, wenn denn etwas schief geht? Ist es vor allem die Musik, ist sie für den heutigen Hörer zu einfach gestrickt (Hagmann: „ das ist für den Hörer, der die Spätromantik und ihre Chromatik bis hin zur Auflösung der Tonalität in sich hat, nicht einfach aufzunehmen“)? Oder liegt es mehr an den Interpretationen, auch diese Spur verfolgt Hagmann. Jedoch die Spielweise des in Berlin spielenden Freiburger Barockorchesters unter René Jacobs wird von ihm gerühmt, nicht nur in klanglicher Hinsicht: „ belebte, auch vielfach nuancierte Tempi, […] geschmeidige Artikulation und deutliche Akzentsetzung“.


Interpretatorische Mittel 

Ist es dennoch denkbar, dass diese Musik mit den heute üblichen interpretatorischen Mitteln nicht in der richtigen Weise zum Leben gebracht wird? Es gibt andere Komponisten, deren Musik es auch schwer hat heutzutage, Gluck und Carl Philipp Emanuel Bach beispielsweise, bei denen mein Eindruck ist, dass viele ihrer Werke nur mit einer permanenten und individuellen hohen Flexibilität des Tempos angemessen zur Geltung kommen, wie sie (bei Gluck) meines Wissens vor allem Mark Minkowski verwirklicht.

Aber die Tempogestaltung bei Orlando Paladino erscheint angemessen, Hagmann berichtet es aus Berlin, und auch die Aufnahme Harnoncourts wird diesem interpretatorischen Aspekt in hohem Maße gerecht. Überhaupt glaube ich, dass Harnoncourt mit seiner Interpretation absolut in die richtige Richtung geht, aber in vielerlei Hinsicht noch längst nicht weit genug.

Da sind die theatralischen Effekte: Kann das nicht noch viel mehr überwältigen, den Hörer völlig atemlos machen? Da ist die Charakterisierung einzelner Motive: Kann die nicht noch viel individueller sein einerseits, und noch viel vielfältiger andererseits, jedesmal wieder etwas anders, wenn das Motiv erneut auftaucht oder sich wiederholt? Innerhalb dieser Charakterisierung scheint mir noch eine ganze Dimension an Schattierungsmöglichkeiten ungenutzt zu sein, in der dann jeder Ton mit seiner ganz eigenen dynamischen und mikrozeitlichen Nuancierung beiträgt zu einer Darstellungsweise, bei der der Hörer in jedem Moment gar nicht anders kann als gebannt zuzuhören.

Die historische Aufführungspraxis hat in vielerlei Hinsicht wiederentdeckt, wie die barocken und frühklassischen Rhythmen zu spielen und zu artikulieren sind, damit die Charaktere dieser Musik in lebendiger Weise zur Geltung kommen. Jedoch dauert die interpretatorische Entwicklung noch an, vielleicht steht sie sogar noch recht weit an ihrem Anfang, was die Individualisierung dieser Lebendigkeit betrifft, hinsichtlich ihrer Intensität ebenso wie hinsichtlich ihrer Feinzeichnung.


Harmonische Einfachheit 

Einen wichtigen Aspekt beschreibt Hagmann in seiner Rezension ausführlich: „Zur Hauptsache liegt die Schwierigkeit aber doch in der Musik selbst, zum Beispiel in ihrer harmonischen Einfachheit“. Wenn das so ist, wie können Musiker damit heutzutage sinnvoll umgehen?

Glenn Gould, auch ein wichtiger Haydn-Interpret (auf dem Gebiet der Klaviersonaten), entwickelt zu dieser Frage seine „Theorie der modulatorischen Distanz“ (in: Von Mozart und verwandten Dingen). Kurzgefasst: er verneint darin die Notwendigkeit, eine neunhundertneunzigmal gehörte Modulation interpretatorisch zu überhöhen, er möchte eine solche Überhöhung aufsparen für die „magischen Momente“ in ganz besonderen Kompositionen.

Aber um solche Überhöhungen geht es gar nicht unbedingt im Umgang mit für heutige Ohren harmonisch einfach gestrickter Musik, Goulds eigenes Beispiel hierfür entstammt einer Beethoven-Sonate. Und natürlich kann eine Interpretation, die ihre Hörer immer wieder darauf stößt, wie einfach die Musik doch gebaut ist (Glenn Gould tut das auch nur manchmal, und bei ihm ist es natürlich trotzdem interessant zuzuhören, weil er einfach ständig musikalisch faszinierend spielt), nicht auf Dauer mit großem Interesse seitens der Hörerschaft rechnen.

In einer Opernaufführung, da können solche intellektuellen Überlegungen doch normalerweise keine Rolle spielen! Muss es nicht für einen Vollblutmusiker eine ständige Herausforderung sein, all den Harmoniewechseln und Modulationen die größtmögliche Sorgfalt und Fantasie angedeihen zu lassen, müsste nicht jede Modulation aufregender gestaltet sein als die vorige, dabei selbstredend den harmonischen Gesamtzusammenhang beachtend? Ich glaube nicht, dass unsere Ohren, wiewohl durch die Hörerfahrungen der Spätromantik gegangen, die Haydnschen Harmonien und Modulationen nicht mehr wirklich interessant und aufregend finden können. Aber diese Harmonien wirken, jedenfalls für unsere Ohren, nicht ganz von selbst, man kann nicht sagen, dass der Interpret nachhelfen muss, aber er muss, das ist seine Aufgabe, ihre jeweilige Individualität immer wieder neu suchen, finden und darstellen.


Der Musik helfen durch die Interpretation, „interpretatorisches Mitdenken“ der Hörer

Es gibt Musik, von der man sagt, sie sei „nicht kaputt zu kriegen“. Und auf der anderen Seite gibt es Musik, die kommt offenbar nur unter besonders glücklichen interpretatorischen Umständen zu einer ihr gemäßen Geltung und Wirkung.

Aber ich habe da meine Zweifel an solchen Feststellungen, und wenn sie denn so stimmen sollten, stimmen sie nur für die jeweilige historische Konstellation. Zu berücksichtigen sind in einem bestimmten historischen Moment zum einen stets die interpretatorischen Gewohnheiten, zum anderen immer auch die Hörgewohnheiten, welche Musik also viel gehört wird und mit welcher Spielweise sie gehört wird. Da gibt es historische Entwicklungen und Verschiebungen, bei den Spielweisen ebenso wie bei den Hörweisen, und Jahrzehnte später sieht manches schon ganz anders aus.

Nur für Musik und Spielweisen, die das Publikum durch häufiges Hören wirklich gut kennt, entwickelt sich eine Art von „interpretatorischem Mitdenken“ von seiten des Publikums. Die Hörer haben, in einem gewissen Rahmen, eine bestimmte Musik in verschiedenen Spielweisen gehört, sind also, meist unbewusst, mit einigen interpretatorischen Spielräumen vertraut. Die auf diese Weise entstandene „mit“-interpretatorische Fantasie wird eingebracht, wenn ein solches bereits gut bekanntes Stück, oder ein Stück mit großer Ähnlichkeit zu gut bekannten Stücken, erneut gehört wird – da ist es dann nicht mehr so wichtig, ob die Interpretation besonders treffend ist, das Stück wird trotzdem gut verstanden, und es mag für manchen Hörer sogar wünschenswert sein, wenn ihm eine eher neutrale Interpretation die Freiheit des interpretatorischen Mitdenkens lässt.

Ganz anders ist es bei Musik, bei der die ihr gemäße Interpretationsweise den Hörern weitgehend unbekannt ist. Wird diese Musik nicht charakteristisch genug gespielt, geht sie am Aufnahmevermögen der Hörer schlichtweg vorbei. Ja sie muss sogar zunächst übercharakteristisch gespielt werden, denn die Hörer müssen ja sozusagen erst lernen, wie diese Musik zu hören ist, die entsprechenden Wahrnehmungsstrukturen beim Hörer müssen erst, mit einem aktuellen neurophysiologischen Begriff ausgedrückt, „gebahnt“ werden.

Peter Hagmann scheint dies zu ahnen, seine Hoffnung, Haydnsche Opernmusik adäquat interpretiert zu hören, ist aber, auf höchstem Niveau, weder in Wien noch in Berlin erfüllt worden. Es erscheint mir wahrscheinlich, dass wir nur noch ein paar Jahre zu warten brauchen. So wie kaum jemand vor 30 Jahren mit der heutigen Popularität von Händel-Opern gerechnet hätte, so ist auch von einer zukünftigen Renaissance der Haydn-Opern auszugehen, denn die Kunst der Interpretation scheint sich derzeit in eine Richtung zu entwickeln, die ihnen gemäß ist.

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