Dienstag, 26. Mai 2009

Uchida, Schumann op. 17, Webern op. 27, interpretatorische Abfärbungen

© Gernot von Schultzendorff 2009

BLOG vom 18. 5. 2009


Klavierabend Mitsuko Uchida im Großen Sendesaal des NDR in Hannover am 16.5.2009

 

Programm

  • Mozart: Rondo Nr. 3 a-moll KV 511
  • Webern: Variationen Op. 27
  • Beethoven: Sonate Nr. 28 A-Dur op. 101
  • Schumann: Fantasie C-Dur op. 17

Daran anknüpfendes Thema:

  • Programm-Bezüge und interpretatorische Abfärbungen


Auch und gerade große Künstler sind zum Glück keine Computer, weiterhin ist die Inspiration ein sehr menschlicher Faktor. War man in der Pause von Mitsuko Uchidas Klavierabend in zwar gehobener, aber keineswegs überwältigter Stimmung, so sprang der Funke zwischen Künstler und Publikum in der 2. Konzerthälfte mit der Schumann-Fantasie in einem Maße über, das den Abend zu einem überaus gelungenen machte. 


Schumann: Fantasie C-Dur op. 17

[Vergleichsaufnahme:

  • Wilhelm Kempff (1957, Mono)]

In Uchidas Interpretation stand die Musik in einer Weise im Vordergrund, die zur Pflicht erklärt werden sollte in der musikalischen Interpretation. Gerade diese Komposition kann ungemein in Mitleidenschaft gezogen werden durch die Folgen von Strategien, mit denen falsche Töne auf Kosten musikalischer Erfordernisse vermieden werden sollen. Insbesondere in der Stretta des 2. Satzes kann nur ein hoher Kontrast des neuen Tempos zur vorangehenden Passage („Viel bewegter“) den Schumannschen Intentionen und dem miterlebenden Verständnis der Hörer gerecht werden kann; aber auch die Beachtung der von Schumann vorgegebenen starken dynamischen Kontraste bedeutet stets ein Risiko, das es einzugehen gilt auf Kosten einer Perfektion, die hier nur eine nachgeordnete Rolle spielen darf.

Wunderbar war der Umgang mit den vielen delikaten Harmoniewechseln und Modulationen, von Uchida auf das Schönste ausgehört dargeboten, ohne dass sie sich dabei auch nur im Geringsten verselbständigten. Wunderbar war auch die einfache Akkordbrechung gespielt, das Haupt-„Thema“ des dritten Satzes; als Begleitungsfigur aus zahllosen italienischen Arien bekannt wird sie in diesem Satz zum eigentlichen Inhalt der Musik, furios zum Schluss hin gesteigert, und es war faszinierend, die unendlichen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten dieser von Schumann wie von der Interpretin so abwechlungsreich behandelten Akkordbrechung mitzuerleben.

Verständlich war auch in hohem Maße das Metrum, das dem Hörer so leicht auf die falschen Zählzeiten verrutscht in vielen Passagen dieses Werkes, wenn die Interpretation dem nicht vorbeugt; wie leicht können wichtige Abschnitte der Musik für das Publikum im Grunde unverständlich und das Miterleben dann auf das Mitempfinden einer allgemeinen Leidenschaftlichkeit reduziert werden.

Diese Leidenschaftlichkeit selbst, die Grundstimmung dieses Werkes, sie kann gar nicht intensiv genug dargestellt werden, und Uchida blieb den Hörern auch in dieser Hinsicht nichts schuldig. Und sie langte in die Tasten, in der Schlussphase des 2. Satzes zumal, dass man fast dachte, es wäre des Guten zuviel, aber Schumann hat hier, indem die von ihm vorgegebene Dynamik zwischen ff und fff schwankt, eben dies notiert.

Wie verschieden demgegenüber die Aufnahme von Wilhelm Kempff: In einem für einen bedeutenden Künstler doch sehr seltenen Ausmaß kümmert er sich herzlich wenig um eine dem Werk gerecht werdende Interpretation, nur die weite Dynamik steht auf einem  interpretatorischen Niveau, das dem von Uchida in diesem Werk vergleichbar ist. Enttäuschend auch seine Behandlung der Duolen und Quartolen im 3. Satz, sie sind bei ihm so gar nicht zu unterscheiden von ganz normalen Achteln, wo sie doch über von den der linken Hand gespielten 3 Achtel-Gruppen quasi zu schweben hätten. Generations­bedingt ist dies nicht unbedingt: Viele großartige Schumann-Interpretationen, allerdings mit einem gewissen Schwerpunkt im Liedgesang, verdanken wir Künstlern seiner Zeit.


Programm-Bezüge und interpretatorische Abfärbungen 

Selten nur trifft man auf Konzertprogramme mit so interessanten wie geheimnisvollen Bezügen zwischen den Stücken wie in diesem Recital Uchidas, so verschieden die Musikstile und die Epochen der Entstehung der Werke auch sein mögen. Eine besonders interessante Erfahrung für die Hörer ist dabei, welche interpretatorischen Veränderungen mit den Stücken vorgehen können, wenn die Stücke in ihrer Zusammenstellung nicht nur für sich stehen, sondern wenn sich Zusammenhänge zwischen ihnen in Inhalt oder Geist herausstellen.

So war in diesem Konzert die Interpretation der Sonate op. 101 von Beethoven durch Mitsuko Uchida durchaus ein Pausengespräch, und die Erstaunlichkeit, ja fast sogar Rätselhaftigkeit ihrer Darstellung fand erst in der zweiten Konzerthälfte ihre Auflösung. Denn Uchidas Beethoven-Interpretation an diesem Abend stand durchaus in deutlichem Gegensatz zu ihren Beethoven-Aufnahmen; insbesondere solche stark zerfließenden, ineinander übergehenden und wenig kontrastierten Tempi findet man dort höchstens in zarten Ansätzen. „Der Beethoven“ dieses Abends hingegen deutete, wie sich herausstellte, eben schon hin auf das Hauptwerk des Programms, auf den Schumann, und gerade dieser auch interpretatorische Bezug war eines der besonderen, noch lange in der Erinnerung bleibenden Hörerlebnisse.

Dabei fragt man sich, ob es sich bei einer solchen interpretatorischen Abfärbung um einen von der Künstlerin gewollten oder eher um einen unbewussten Vorgang handelt. In Erinnerung kommen mir Konzerterlebnisse mit Vladimir Horowitz, bei denen die Konzerthälften aus ziemlich bunt gemischten Programmen bestanden, denen dieser Virtuose jeweils einen bestimmten musikalisch-technischen Aspekt, etwa eine bestimmte Klangfarbe, überstülpte. So atemberaubend und erstaunlich diese Kunst Horowitz` auch war, ist im Grunde die inhaltliche Abfärbung interpretatorischer Aspekte, wie bei Uchida erlebt, musikalisch doch sehr viel ergiebiger, und es war im Nachhinein äußerst interessant erlebt zu haben, wie, wohlgemerkt: innerhalb eines Konzertprogramms, eine Beethoven-Sonate aus dem Geiste Schumanns sich darstellt.


Webern: Variationen op. 27 

Vergleichsaufnahmen:

Alle überlieferten Zeugnisse und Berichte sowie auch die erstaunliche Aufnahme mit Webern als Dirigenten des Bergschen Violinkonzerts deuten darauf hin, dass seine Musik mit allergrößter Intensität, Leidenschaft und Expressivität zu spielen ist. Offenbar kann man ihr kaum weniger gerecht werden als mit einer „werktreuen“ Interpretation. Zwei Zitate mögen dies belegen.

  • Peter Heyworth (ed.): Conversations with Klemperer, S. 94

Klemperer: „I conducted his [Webern`s] symphony in Berlin as well as in Vienna. But I couldn`t find my way into it. I found it terribly boring. So I asked Webern – I was staying in Vienna – to come and play it to me on the piano. Then perhaps I would understand it better. He came and played every note with enormous intensity and fanaticism.“

Heyworth: „ Not coolly?“

Klemperer: „No, passionately! When he had finished, I said, ‘You know, I cannot conduct it in that way. I`m simply not able to bring that enormous intensity to your music. I must do as well as I can.’ “

  • Peter Stadlen, der Pianist der Uraufführung von op. 27, schreibt in einem Brief vom 16. 10. 1937 über seine Arbeit mit Webern an diesem Werk (aus dem Englischen übersetzt von Walter Kolneder in seinem Buch: Anton Webern, Köln 1961, S. 128/129).

„Wenn er [Webern] sang und schrie, seine Arme bewegte und mit den Füßen stampfte beim Versuch, das auszudrücken, was er die Bedeutung der Musik nannte, war ich erstaunt zu sehen, daß er diese wenigen, für sich allein stehenden Noten behandelte, als ob es Tonkaskaden wären. Er bezog sich ständig auf die Melodie, welche, wie er sagte, reden müsse wie ein gesprochener Satz. Diese Melodie lag manchmal in den Spitzentönen der rechten Hand und dann einige Takte lang aufgeteilt zwischen linker und rechter. Sie wurde geformt durch einen riesigen Aufwand von ständigem Rubato und einer unmöglich vorherzusehenden Verteilung von Akzenten. Aber es gab auch alle paar Takte entschiedene Tempowechsel, um den Anfang eines »neuen gesprochenen Satzes« zu kennzeichnen... Gelegentlich versuchte er, die allgemeine Stimmung eines Stückes aufzuzeigen, indem er das quasi improvisando des ersten Satzes mit einem Intermezzo von Brahms verglich, oder den Scherzocharakter des zweiten mit der Badinerie von Bachs h-moll-Suite, an die er, wie er sagte, bei der Komposition seines Stückes gedacht hatte. Aber die Art, in der dieses aufgeführt werden mußte, war in Weberns Vorstellung genau festgelegt und nie auch nur im geringsten der Stimmung des Augenblicks überlassen... Nicht ein einzigesmal berührte Webern den Reihenaspekt seiner Klaviervariationen. Selbst als ich ihn fragte, lehnte er es ab, mich darin einzuführen - weil es, sagte er, für mich wichtig wäre, zu wissen, wie das Stück gespielt wird, nicht wie es gemacht worden ist. “

Mitsuko Uchidas Wiedergabe der Variationen op. 27 war adäquat, insbesondere im Zusammenhang dieses sehr überlegt zusammengestellten Konzertprogramms. Jedoch verging die Musik recht schnell, es gab nicht sehr viele Punkte in ihrer Darstellung, an der man als Hörer hängenblieb.

Maurizio Pollini und Glenn Gould hingegen spielen dieses Werk mit so vielen immanenten Bezügen, Kontrasten, kurz aufblitzenden Gestalten, dass der Hörer mit ihrer Verarbeitung außerordentlich beschäftigt ist und die sehr kurzen Sätze als durchaus lang und enorm inhaltsreich empfindet. Die leidenschaftliche, expressive Komponente ist jedoch auch in diesen Darstellungen keineswegs stark ausgeprägt. Wolfram Goertz beschreibt in seinem Artikel in der ZEIT vom 14.6.2006, (http://www.zeit.de/2006/25/D-Musikklassiker-25_xml) die (überraschend hallig aufgenommene) Interpretation Krystian Zimermans als „flammend expressiv“, und sicherlich ist sie deutlich expressiver als diejenigen seiner Kollegen Pollini und Gould. Aber was sich alles an Expressivität in diesen 3 Sätzen verbirgt, welche Leidenschaft die kleinsten Figuren, ja einzelne Noten bereits beseelen könnte und sollte, das scheint auch Zimerman nur ansatzweise ans interpretatorische Licht zu bringen.

Haydn-Oper, interpretatorische Mittel, "interpretatorisches Mitdenken" der Hörer

© Gernot von Schultzendorff 2009

BLOG vom 14. 5. 2009

Rechtsbündig

Die Haydn-Oper „Orlando Paladino“ und Interpretationsfragen


Rezension der Aufführung an der Berliner Lindenoper (Dirigent: René Jacobs) in der Neuen Zürcher Zeitung vom 13. 5. 2009 von Peter Hagmann. http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/joseph_haydns_zauberfloete_1.2545570.html


Vergleichsaufnahme:

  • Contentus Musicus Wien, Nicolaus Harnoncourt (2006).

Themen:

  • Interpretatorische Mittel
  • Harmonische Einfachheit
  • Der Musik helfen durch die Interpretation, „interpretatorisches Mitdenken“ der Hörer


Es ist Haydn-Jahr, und dieser wunderbare Komponist, dessen Musik im üblichen Konzertbetrieb sonst eher zum Aufwärmen ge- oder gar missbraucht wird, steht häufiger als sonst auch im Mittelpunkt mancher Programmgestaltung. 16 Opern hat er geschrieben, „viele davon wurden in ganz Europa nachgespielt“, wie wir bei Peter Hagmann lesen, aber „heute hat man seine liebe Mühe mit dieser Musik.“ Hagmann schreibt über die Aufführung des Orlando Paladino in Wien vor 2 Jahren, „wo Nikolaus Harnoncourt ein fulminantes, doch letztlich vergebliches Plädoyer für [dieses Werk] hielt“, und von der aktuellen Aufführung in Berlin berichtet er, dem Dirigenten René Jacobs, einem „äußerst kreativen Querdenker, gelänge es vielleicht, die verschlossene Tür aufzustoßen und uns eine Oper von Haydn neu erleben zu lassen. Allein, es blieb bei der Hoffnung.“ 

Was geht hier schief, wenn denn etwas schief geht? Ist es vor allem die Musik, ist sie für den heutigen Hörer zu einfach gestrickt (Hagmann: „ das ist für den Hörer, der die Spätromantik und ihre Chromatik bis hin zur Auflösung der Tonalität in sich hat, nicht einfach aufzunehmen“)? Oder liegt es mehr an den Interpretationen, auch diese Spur verfolgt Hagmann. Jedoch die Spielweise des in Berlin spielenden Freiburger Barockorchesters unter René Jacobs wird von ihm gerühmt, nicht nur in klanglicher Hinsicht: „ belebte, auch vielfach nuancierte Tempi, […] geschmeidige Artikulation und deutliche Akzentsetzung“.


Interpretatorische Mittel 

Ist es dennoch denkbar, dass diese Musik mit den heute üblichen interpretatorischen Mitteln nicht in der richtigen Weise zum Leben gebracht wird? Es gibt andere Komponisten, deren Musik es auch schwer hat heutzutage, Gluck und Carl Philipp Emanuel Bach beispielsweise, bei denen mein Eindruck ist, dass viele ihrer Werke nur mit einer permanenten und individuellen hohen Flexibilität des Tempos angemessen zur Geltung kommen, wie sie (bei Gluck) meines Wissens vor allem Mark Minkowski verwirklicht.

Aber die Tempogestaltung bei Orlando Paladino erscheint angemessen, Hagmann berichtet es aus Berlin, und auch die Aufnahme Harnoncourts wird diesem interpretatorischen Aspekt in hohem Maße gerecht. Überhaupt glaube ich, dass Harnoncourt mit seiner Interpretation absolut in die richtige Richtung geht, aber in vielerlei Hinsicht noch längst nicht weit genug.

Da sind die theatralischen Effekte: Kann das nicht noch viel mehr überwältigen, den Hörer völlig atemlos machen? Da ist die Charakterisierung einzelner Motive: Kann die nicht noch viel individueller sein einerseits, und noch viel vielfältiger andererseits, jedesmal wieder etwas anders, wenn das Motiv erneut auftaucht oder sich wiederholt? Innerhalb dieser Charakterisierung scheint mir noch eine ganze Dimension an Schattierungsmöglichkeiten ungenutzt zu sein, in der dann jeder Ton mit seiner ganz eigenen dynamischen und mikrozeitlichen Nuancierung beiträgt zu einer Darstellungsweise, bei der der Hörer in jedem Moment gar nicht anders kann als gebannt zuzuhören.

Die historische Aufführungspraxis hat in vielerlei Hinsicht wiederentdeckt, wie die barocken und frühklassischen Rhythmen zu spielen und zu artikulieren sind, damit die Charaktere dieser Musik in lebendiger Weise zur Geltung kommen. Jedoch dauert die interpretatorische Entwicklung noch an, vielleicht steht sie sogar noch recht weit an ihrem Anfang, was die Individualisierung dieser Lebendigkeit betrifft, hinsichtlich ihrer Intensität ebenso wie hinsichtlich ihrer Feinzeichnung.


Harmonische Einfachheit 

Einen wichtigen Aspekt beschreibt Hagmann in seiner Rezension ausführlich: „Zur Hauptsache liegt die Schwierigkeit aber doch in der Musik selbst, zum Beispiel in ihrer harmonischen Einfachheit“. Wenn das so ist, wie können Musiker damit heutzutage sinnvoll umgehen?

Glenn Gould, auch ein wichtiger Haydn-Interpret (auf dem Gebiet der Klaviersonaten), entwickelt zu dieser Frage seine „Theorie der modulatorischen Distanz“ (in: Von Mozart und verwandten Dingen). Kurzgefasst: er verneint darin die Notwendigkeit, eine neunhundertneunzigmal gehörte Modulation interpretatorisch zu überhöhen, er möchte eine solche Überhöhung aufsparen für die „magischen Momente“ in ganz besonderen Kompositionen.

Aber um solche Überhöhungen geht es gar nicht unbedingt im Umgang mit für heutige Ohren harmonisch einfach gestrickter Musik, Goulds eigenes Beispiel hierfür entstammt einer Beethoven-Sonate. Und natürlich kann eine Interpretation, die ihre Hörer immer wieder darauf stößt, wie einfach die Musik doch gebaut ist (Glenn Gould tut das auch nur manchmal, und bei ihm ist es natürlich trotzdem interessant zuzuhören, weil er einfach ständig musikalisch faszinierend spielt), nicht auf Dauer mit großem Interesse seitens der Hörerschaft rechnen.

In einer Opernaufführung, da können solche intellektuellen Überlegungen doch normalerweise keine Rolle spielen! Muss es nicht für einen Vollblutmusiker eine ständige Herausforderung sein, all den Harmoniewechseln und Modulationen die größtmögliche Sorgfalt und Fantasie angedeihen zu lassen, müsste nicht jede Modulation aufregender gestaltet sein als die vorige, dabei selbstredend den harmonischen Gesamtzusammenhang beachtend? Ich glaube nicht, dass unsere Ohren, wiewohl durch die Hörerfahrungen der Spätromantik gegangen, die Haydnschen Harmonien und Modulationen nicht mehr wirklich interessant und aufregend finden können. Aber diese Harmonien wirken, jedenfalls für unsere Ohren, nicht ganz von selbst, man kann nicht sagen, dass der Interpret nachhelfen muss, aber er muss, das ist seine Aufgabe, ihre jeweilige Individualität immer wieder neu suchen, finden und darstellen.


Der Musik helfen durch die Interpretation, „interpretatorisches Mitdenken“ der Hörer

Es gibt Musik, von der man sagt, sie sei „nicht kaputt zu kriegen“. Und auf der anderen Seite gibt es Musik, die kommt offenbar nur unter besonders glücklichen interpretatorischen Umständen zu einer ihr gemäßen Geltung und Wirkung.

Aber ich habe da meine Zweifel an solchen Feststellungen, und wenn sie denn so stimmen sollten, stimmen sie nur für die jeweilige historische Konstellation. Zu berücksichtigen sind in einem bestimmten historischen Moment zum einen stets die interpretatorischen Gewohnheiten, zum anderen immer auch die Hörgewohnheiten, welche Musik also viel gehört wird und mit welcher Spielweise sie gehört wird. Da gibt es historische Entwicklungen und Verschiebungen, bei den Spielweisen ebenso wie bei den Hörweisen, und Jahrzehnte später sieht manches schon ganz anders aus.

Nur für Musik und Spielweisen, die das Publikum durch häufiges Hören wirklich gut kennt, entwickelt sich eine Art von „interpretatorischem Mitdenken“ von seiten des Publikums. Die Hörer haben, in einem gewissen Rahmen, eine bestimmte Musik in verschiedenen Spielweisen gehört, sind also, meist unbewusst, mit einigen interpretatorischen Spielräumen vertraut. Die auf diese Weise entstandene „mit“-interpretatorische Fantasie wird eingebracht, wenn ein solches bereits gut bekanntes Stück, oder ein Stück mit großer Ähnlichkeit zu gut bekannten Stücken, erneut gehört wird – da ist es dann nicht mehr so wichtig, ob die Interpretation besonders treffend ist, das Stück wird trotzdem gut verstanden, und es mag für manchen Hörer sogar wünschenswert sein, wenn ihm eine eher neutrale Interpretation die Freiheit des interpretatorischen Mitdenkens lässt.

Ganz anders ist es bei Musik, bei der die ihr gemäße Interpretationsweise den Hörern weitgehend unbekannt ist. Wird diese Musik nicht charakteristisch genug gespielt, geht sie am Aufnahmevermögen der Hörer schlichtweg vorbei. Ja sie muss sogar zunächst übercharakteristisch gespielt werden, denn die Hörer müssen ja sozusagen erst lernen, wie diese Musik zu hören ist, die entsprechenden Wahrnehmungsstrukturen beim Hörer müssen erst, mit einem aktuellen neurophysiologischen Begriff ausgedrückt, „gebahnt“ werden.

Peter Hagmann scheint dies zu ahnen, seine Hoffnung, Haydnsche Opernmusik adäquat interpretiert zu hören, ist aber, auf höchstem Niveau, weder in Wien noch in Berlin erfüllt worden. Es erscheint mir wahrscheinlich, dass wir nur noch ein paar Jahre zu warten brauchen. So wie kaum jemand vor 30 Jahren mit der heutigen Popularität von Händel-Opern gerechnet hätte, so ist auch von einer zukünftigen Renaissance der Haydn-Opern auszugehen, denn die Kunst der Interpretation scheint sich derzeit in eine Richtung zu entwickeln, die ihnen gemäß ist.

Prokofiev 1. Vl.kz., Bartok Konzert für Orchester, Bartok Sprachcharakter und Idiom, Mercatorhalle Duisburg

© Gernot von Schultzendorff 2009

BLOG vom 26.4.2009


Konzert des WDR Sinfonieorchesters Köln in der Mercatorhalle Duisburg am 25.4.2009

Solistin: Alina Pogostkina, Violine

Dirigent: Thomas Hengelbrock


Programm

  • J. Haydn: Sinfonie C-Dur Hob. I:60 „Il Distratto“
  • S. Prokofiev: Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 D-Dur op. 19
  • B. Bartók: Konzert für Orchester

Daran anknüpfende Themen:

  • Interpretation und das Üben etüdenähnlicher Passagen
  • Sprachcharakter und Idiom bei Bartók
  • Akustik der Mercatorhalle Duisburg

 

Ein eindrucksvolles Konzert von Seiten des Orchesters und des Dirigenten, mit einer Solistin, bei der das hohe technische Können den musikalischen Ertrag überwog. 


Haydn: Sinfonie „Il Distratto“

Das Publikum hörte eine rundum erfreuliche und lebendige Darbietung, bei der wieder deutlich wurde, in welch fruchtbarer Weise die historische Aufführungspraxis, in der Thomas Hengelbrock fest verwurzelt ist, mittlerweile auch von den traditionellen Orchestern angenommen wird. Die Streicherbesetzung war deutlich reduziert gegenüber den beiden folgenden Werken, jedoch immer noch recht groß; eine kluge Disposition, denn der volle Klang ging eine glückliche Verbindung mit dem für dieses Werk recht üppigen Nachhall des Saales ein. Eine den guten Gesamteindruck keineswegs trübende Kritik betrifft die in diesem ersten Stück nicht immer perfekten Hörner sowie die Abschlüsse einiger Phrasen und Formteile, die nicht immer gänzlich homogen und einheitlich wirkten.

 

Prokofiev: Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 D-Dur op. 19

[Vergleichsaufnahme:

  • Julia Fischer mit dem Russian National Orchestra unter Yakov Kreizberg (2004)]

Orchester und Solistin verliehen diesem selten gespielten Werk einen äußerst spannungsreichen und klangfarblich eindrucksvollen Beginn. Alina Pogostkina bot in technischer Hinsicht eine hervorragende Leistung, wurde in der Folge jedoch den musikalischen Anforderungen dieser sehr abwechslungsreichen und vielgestaltigen Komposition nicht mehr in vollem Umfang gerecht. Sie ging in nur geringem Maß auf die vielen musikalischen Facetten des Konzertes ein, stattdessen wirkte ihr Spiel über längere Passagen eingeebnet und leider etüdenhaft. Auch war ihr Spiel in mehreren Passagen ein kleines Stück schneller als von Dirigent und Orchester, auf jene eher subtile Weise, die entsteht, wenn schnelle Passagen in unterschiedlichem Maße musikalisch erfüllt sind.

Dieses großartige Werk spielt sich keineswegs von selbst, die Interpreten müssen sich auf seine vielen Charaktere einlassen und sie, auch in idiomatischer Hinsicht, zur Geltung bringen. Dirigent und Orchester boten eine gute Leistung, die sich an die Spielweise der Solistin im erforderlichen Umfang anpasste.

Julia Fischers Einspielung, ihre erste große Aufnahme (bei Pentatone), könnte beeindruckender nicht sein und muss, auch klanglich sehr gelungen, als Referenzaufnahme dieses Werkes angesehen werden. In jeder noch so kleinen Phrase vibrierend vor Spannung und Musikalität, ist die gesamte Aufnahme mit großem musikalischen Sinn erfüllt und durch ein ideales Verhältnis zwischen Solistin und Orchester, ein gegenseitiges Verstehen gekennzeichnet.

 

Interpretation und das Üben von Etüden und etüdenähnlichen Passagen

Man tritt Prokofiev gewiss nicht zu nahe, wenn man die Spielweise mancher Passagen seines 1. Violinkonzerts in Pogostkinas Interpretation als etüdenähnlich bezeichnet; Julia Fischer zeigt ja, wie unglaublich viel großartige Musik in diesen Passagen steckt. Ein Konzerterlebnis wie dieses wirft jedoch erneut die Frage auf, wie die Prioritäten in der Ausbildung junger Musiker gesetzt werden sollten.

Immer wieder kann man die Meinung hören, zunächst müsse von den Studenten die Technik ihres Instruments gründlich beherrscht werden, dann erst dürfe das Musikmachen in den Vordergrund rücken. Welche Fokussierung auf das Technische! Leider passiert es oft, dass beachtliche musikalische Leistungen junger Musiker bei einer solchen Einstellung nicht recht gewürdigt werden, weil sie äußerlich noch von technischen Problemen überdeckt werden; diese sollen hier keineswegs unter den Tisch gekehrt, aber eben auch nicht dramatisiert werden. Das Musikalische lässt sich allerdings kaum messen, in einer Welt der perfekten Aufnahmen und der Wettbewerbe gerät es leicht aus dem Fokus und ist vielleicht auch manchen Lehrern und Juroren nicht so wichtig.

Natürlich stehen musikalische und technische Begabung bei Musikern und Musikstudenten nicht immer in dem wünschenswerten ausgewogenen Verhältnis zueinander. Ist aber die technische Begabung ausgeprägter, kann ohnehin nicht früh genug mit der Förderung der Musikalität begonnen werden.

Denn wie soll das funktionieren: viele Jahre nur technische Übungen absolvieren, dann plötzlich einen Hebel umlegen, und ab diesem Moment wird das Ganze allmählich oder gar plötzlich mit musikalischem Sinn ausgefüllt? Stattdessen sind noch so technische Übungen, auch Tonleitern, im Grunde leichter zu bewältigen, wenn der Student ständig nach Wegen sucht, ihnen nicht nur technisch, sondern auch musikalisch gerecht zu werden. Ein anderer wichtiger Punkt ist die Motivation: Kann hohe Musikalität jahrelang brachliegen, ohne zu degenerieren? Unbedingt wünschenswert also ist eine parallel verlaufende Entwicklung und Förderung von Technik und Musikalität, die darauf achtet, die Technik stets im Dienste der Musikalität stehen zu lassen.

 

Bartók: Konzert für Orchester

[Vergleichsaufnahme:

  • RSO Berlin, Dirigent: Ferenc Fricsay (Mono, 1953)]

Hengelbrock und das WDR Sinfonieorchester boten eine überzeugende Darbietung dieses höchst anspruchsvollen Werkes. Hervorzuheben sind insbesondere die rhythmische Prägnanz, die klangliche Ausgewogenheit und die höchst musikalische Aufmerksamkeit, mit der die Instrumentengruppen aufeinander hörten und reagierten.

 

Idiomatik und Rhetorik in der Interpretation von Bartóks Musik

Elemente, die Fricsay, ein gebürtiger Ungar, in seiner Aufnahme mit dem RSO Berlin dem Werk noch hinzuzufügen vermag, sind einmal das Idiomatische, mit dem die Verwurzelung Bartóks in der Volksmusik seines Landes auf eine Weise spürbar wird, ohne die dieser Musik etwas von ihrem Sinn zu fehlen scheint. Denn das heißt unbedingt auch Vermeiden von sich verselbständigender Sentimentalität und Trivialität, einer durchaus immanenten Gefahr, wenn das Volksmusikhafte-Idiomatische mit ins Spiel kommt. 

Fast noch bemerkenswerter an Fricsays Aufnahme aber sind die sprachähnlichen, rhetorischen Elemente, die vollständig aus Bartóks Musik zu kommen scheinen und ihr einen großartigen Sinn geben sowie daneben auch den Hauptanteil daran tragen, dass der Hörer von dieser Aufnahme so gefesselt wird.

Nicht bei allen Komponisten ist die rhetorische Komponente in der Interpretation in gleichem Maße von Bedeutung, so ist etwa die Rhetorik, mit der Artur Schnabel die Musik Franz Schuberts so überwältigend darzustellen vermag, in seinen Interpretationen Beethoven zwar eindrucksvoll, aber keineswegs vollständig überzeugend.

Indem rhetorische Interpretationselemente im Gehirn des Hörers von Bereichen der Sprach- und nicht der Musikverarbeitung wahrgenommen wird, bietet sich dem hierfür begabten Interpreten eine zusätzliche Dimension der künstlerischen Kommunikation – wenn sie denn der Musik gemäß ist.

 

Zu schöner Schmelz? Die Akustik der Mercatorhalle Duisburg

Nicht genug loben kann man das Verschmelzen des Klanges der Holzbläser untereinander, genauso aber zusammen mit den Streichern als besonders bemerkenswerte Charakteristik dieses Jahr 2007 eröffneten Konzertsaales. Auf großes Orchester ausgelegt, gefällt der Klang unmittelbar, lässt allerdings nach einiger Zeit auch den gelegentlichen Wunsch nach etwas mehr Biss und kitzelnder Attraktivität aufkommen – vielleicht ließe sich mittelfristig noch etwas optimieren in der Abfolge und Intensität der frühen Reflexionen.

Während der Klang im Haydn und im Prokofiev ansonsten keinerlei Wünsche offen ließ, wirkte das Orchester im größer besetzten und perkussiveren Bartók merkwürdigerweise indirekter. Die Posaunen, hinten rechts platziert, klangen eher hart gegenüber Holzbläsern und Streichern, und die Kontrabässe, obwohl stark besetzt, wirkten punktförmig und konnten dem Gesamtklang kein wirklich überzeugendes Fundament verleihen.  Akustisch günstiger wären hier vermutlich nicht auf der rechten Seite, sondern breit hinter dem Orchester aufgestellte Kontrabässe gewesen. Etwas irritierend war im Bartók zudem, dass der Nachhall von Fortissimo–Stellen (bei einem Platz in der 21. Reihe) deutlich von vorne zu kommen schien und nicht, wie wünschenswert, ausgewogen aus allen Richtungen des großvolumigen Raumes.

Die Akustik des Saals könnte also von verfeinernder Detailarbeit sicher noch profitieren, wie sie in vergleichbaren neuen Sälen während oder nach den ersten Jahre des Betriebes meist stattfindet. Dann würde die Akustik noch mehr Werken und Besetzungen gerecht und vermutlich als wirklich gelungen bezeichnet werden können.

Ligeti Lontano, Bruckner 7, zeitliche Dehnungen und Pathos

© Gernot von Schultzendorff 2009

BLOG vom 20.4.2009

 

Konzert des Staatsorchesters Hannover in der Staatsoper Hannover am 19.4.2009

Dirigent: Andrés Orozco-Estrada

 

Programm:

  • G. Ligeti: Lontano
  • A. Bruckner: Symphonie Nr. 7

Daran anknüpfende Themen:

  • Zeitliche Dehnungen, wenn „viel passiert“, und Pathos


Großer Enthusiasmus bei Publikum und Orchester über dieses gelungene Dirigat. Der junge Kolumbianer Orozco-Estrada hatte viel Vertrauen in die Stücke, das Orchester und das Publikum, gab der Musik alle erforderliche Zeit, sich zu entfalten und wurde vom Orchester mit größter Kooperationsbereitschaft belohnt.

 

Ligeti: Lontano

[Vergleichsaufnahmen:

  • Berliner Philharmoniker unter Jonathan Nott, aus dem Ligeti Project Vol. 2 bei Warner;
  • Wiener Philharmoniker unter Claudio Abbado, auf der CD Wien Modern bei der DG.] 

Das Werk, 1967 komponiert, würde auch wunderbar in Kubricks Kultfilm „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968) passen, für den der Regisseur jedoch 3 andere Werke Ligetis verwendete. Lontano war dann Filmmusik in Kubricks „Shining“ (1980).

Die Aufführung realisierte bewunderungswürdige Klangfelder, die sich so nur im Konzert, nicht jedoch auf Stereo-Aufnahmen verwirklichen lassen. Auch das Entfernte, das der Titel Lontano fordert, wirkte weitgehend umgesetzt, nur wenige Einsätze und Abschlüsse waren etwas überdeutlich.

Auf der CD aus Wien lässt die große Räumlichkeit das Stück ganz übertrieben aufgeblasen erscheinen, ein künstlicher Raumklang tritt in Konkurrenz zu den Klängen des Orchesters, dessen Wirkungen sich nicht mehr frei entfalten können. Anders die Berliner Aufnahme mit zurückhaltender Räumlichkeit und erheblicher Distanz, die geradezu ideal erscheint, nur einige nicht genügend eingebettete Streichertremoli stören das  Bild.

Man fragt sich allerdings beim Hören der genannten Aufnahmen und der heutigen Aufführung, ob mehr Variabilität und Flexibilität im Ablauf des Pulses dem Stück nicht noch gerechter würden.

 

Bruckner: Symphonie Nr. 7

[Vergleichsaufnahme:

  • SWR Sinfonieorchester unter S. Celibidache (1971), veröffentlicht bei der DG;
  • sowie die Erinnerung des Autors an eine Aufführung dieses Werkes in Hannover mit dem Concertgebouw Orkest unter Eugen Jochum im Jahr 1987, ein Vierteljahr vor seinem Tod.]

Tatsächlich eine Aufführung, wie man sie sich in einem hannoverschen Abonnementskonzert nicht besser wünschen könnte. Große Musikalität der Phrasierung und, wie oben schon erwähnt, besonders eindrucksvoll die Zeit, die die Phrasen zum Ausklingen erhielten.

Zwar scheinen Tempoübergänge nicht die größte Stärke Orozco-Estradas zu sein, jedoch gelangen sie durch die große Aufmerksamkeit des Orchesters auf musikalische und spannungsreiche Weise.

Bewunderungswürdig war die Klangbalance, Orozco-Estrada hatte den Mut, an verschiedenen Stellen die Pauke und im Schlussteil des ersten Satzes auch die Streicher im Klangbild fast verschwinden und dann wieder auftauchen zu lassen – mit großem künstlerischen Erfolg.

Celibidache und Jochum geben in ihren Aufnahmen insbesondere den Eingangsthemen der Sätze erheblich mehr Größe und Gültigkeit, jedoch ist die „Bescheidenheit“ der in Hannover gehörten Interpretation nicht weniger plausibel und möglicherweise der überlieferten Persönlichkeit Bruckners selber noch angemessener.


Zeitliche Dehnungen und Pathos 

Celibidaches Aufnahme von Bruckners 7. ist ein ungewöhnlicher Glücksfall der Interpretationsgeschichte: Nicht nur bauen sich lange Spannungsbögen ohne jede Brüche auf, nicht nur realisiert Celibidache staunenswert musikalische und das Werk zum Sprechen bringende Temponuancen und Tempowechsel, sondern es lässt sich an vielen Stellen auch anschaulich erleben, wie dann, wenn „viel passiert“, die musikalische Zeit langsamer wird gegenüber der metronomischen Zeit, auf völlig selbstverständliche und unauffällige Weise.

Celibidache wurde einmal gefragt: Hat Furtwängler das Geheimnis seiner tiefgehenden Interpretationen verraten?
Seine Antwort: »Ja. Ich fragte ihn: ›Herr Doktor, warum werden Sie hier so breit?‹ Seine Antwort: ›Ja, aber hören Sie denn nicht, wieviel los ist?‹ Das wars.«

In Celibidaches Aufnahme der 7. Symphonie Bruckners kommt dieser souveräne Umgang mit der musikalischen Zeit auf Schönste zur Geltung.

Warum bekommen wir eine solche Art von interpretatorischer Vertiefung  der Komposition so selten zu Gehör? Offenbar ist diese Weise des Musikmachens in Misskredit geraten. Im aktuellen Heft der Zeitschrift Fonoforum (5/09) lesen wir in einem Interview mit dem Dirigenten Martin Haselböck auf S. 51: „Kolisch und Leibowitz waren die Ersten, die dem Pathetisieren entgegengearbeitet haben. Denn im 19. Jahrhundert war die Vergrößerung des Klangs mit dessen Verlangsamung einhergegangen.“

Seit dem Durchmarsch der „werktreuen“ Interpretationen in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts sind der Pathetisierung verdächtige Spielweisen weitgehend verpönt. Das Pendel hat dabei weit über ein musikalisch sinnvolles Maß hinaus in die Gegenrichtung ausgeschlagen. Nicht nur die von Celibidache und Furtwängler vermuteten, auch andere grundlegende hörphysiologische Zusammenhänge werden von dieser Entwicklung immer wieder außer Acht gelassen:

Hohe Lautstärken erfordern, wenn ein Tempo als gleichschnell wahrgenommen werden soll, ohnehin eine Verlangsamung des metronomischen Tempos. Akzente lassen sich in zwei Ausführungsweisen realisieren, auf dynamische und zeitliche (verlängernde) Weise (meist kommt es zu einer Mischform); bei Orgel und Cembalo, beides Instrumente ohne unmittelbare Dynamik, müssen die Musiker ohnehin ausschließlich mit dem Mittel des zeitlichen Akzents arbeiten.

Das vom Hörer wahrgenommene Tempo orientiert sich ja nicht am Metronom, es ist vielmehr in erheblichem Maße abhängig von objektiven hörphysiologischen Gegebenheiten sowie von seinem musikalischen Erleben, also vom musikalischen und interpretatorischen Inhalt des Gehörten. Offenbar traf die Tabuisierung des Verlangsamens jedoch einen Nerv der Zeit, man hatte sich sattgehört an diesem Kunstmittel, jedenfalls an seiner übertriebenen Verwendung, denn erst durch übertriebenen oder falschen Gebrauch wird die Verlangsamung zum Pathos. Eine häufige Form des falschen Gebrauches ist es, wenn durch Verlangsamung beim Hörer der Eindruck erzeugt werden soll, dass „viel passiert“, dieser Eindruck durch das jeweilige kompositorische und interpretatorische Umfeld aber nicht gestützt wird.

An die Stelle der hier gemeinten gewissermaßen lokalen Verlangsamung innerhalb einzelner Takte oder einzelner Phrasen (der Begriff „Rubato“ hat eine etwas andere Bedeutung) trat in den 50er Jahren die viel großflächigere starke tempomäßige Differenzierung zwischen den formalen Abschnitten. Auch hierbei kam es natürlich zu erheblichen Übertreibungen, und in einem späteren Blog soll Glenn Goulds Unbehagen hieran untersucht werden: Seine Tempogestaltung von Brahms’ 2. Klavierkonzert verweigerte sich beim Seitenthema des 1. Satzes dieser Gewohnheit der starken Verlangsamung und führte (unter anderem) zur skandalumwitterten Distanzierung des Dirigenten Leonard Bernstein von der gemeinsamen Interpretation.

Auch die historische Aufführungspraxis hat dieses von der „werktreuen“ Interpretationspraxis tabuisierte Terrain noch nicht wirklich zurückgewonnen, wenngleich sich Martin Haselböck von diesem Tabu im oben schon zitierten Interview schon vorsichtig distanziert: „Auch bei den Sinfonien [Beethovens] habe ich die Metronomangaben zwar als Grundlage genommen, aber im Verlaufe der Beschäftigung gespürt, dass die Tempi sich für mich ganz persönlich entwickelten, dass ich an manchen Stellen schneller bin, an anderen langsamer.“