Donnerstag, 3. September 2009

Vereinbarung von Gegensätzen in der musikalischen Interpretation von Beethovens 9. Sinfonie und Schönbergs »Pierrot lunaire«

© Gernot von Schultzendorff 2009

POST vom 3. 9. 2009


Überblick:

A. Presto und Rezitativcharakter im 4. Satz von Beethovens 9. Sinfonie

  • Ingo Metzmacher: Deutscher Klang? Eine Ideologie!
  • Das Rezitativische in Aufnahmen von Erich Kleiber und René Leibowitz

B. Erkennbare Tonhöhe und Sprechgesang in Schönbergs »Pierrot lunaire«

  • Schönbergs Anweisungen für die Sprechstimme im »Pierrot lunaire«
  • Sprechstimme in modernen Aufnahmen
  • Schönbergs Wortwahl „unter guter Berücksichtigung“
  • Schönbergs eigene Aufnahme
  • Muss der Interpret auch analysieren?
  • Eigentümlichkeiten der Tonhöhe bei einer Sprechstimme
  • Aufnahmen mit Marianne Pousseur und dem Remix-Ensemble sowie Pierre Boulez


Einige berühmte Anweisungen von Komponisten zur Interpretation, in denen auf den ersten Blick miteinander unvereinbare Forderungen gestellt werden, die gleichzeitig in der Interpretation realisiert werden sollen, sind immer wieder Anlass zu Diskussionen und zur Positionierung im interpretatorischen Umfeld.

Es kann keine Lösung sein, sich für die Erfüllung nur einer der beiden Forderungen zu entscheiden und auf die Realisierung der jeweils anderen Forderung zu verzichten. Unkonventionelle Wege sollten dazu führen, dass sich die Forderungen letztendlich doch als miteinander vereinbar erweisen.


A. Presto und Rezitativcharakter im 4. Satz von Beethovens 9. Sinfonie

  • Ingo Metzmacher: Deutscher Klang? Eine Ideologie!

In seinem Beitrag Deutscher Klang? Eine Ideologie! in der Zeitschrift Crescendo vom 21.9.2007 schreibt der Dirigent Ingo Metzmacher:

„Jeder Dirigent kommt irgendwann an einen Punkt, an dem er sich entscheiden muss. Zum Beispiel im vierten Satz der 9. Sinfonie von Beethoven.

Dort steht [in Takt 9] in der Partitur “Selon le caractère d’un recitative, mais in tempo” (”Nach Art eines Rezitativs, aber im Tempo”). Was aber bedeutet das? Das angegebene Tempo ist ein “Presto”. Ich muss mich also entscheiden, ob ich das wörtlich nehme oder das Tempo so stark verlangsame, dass die Celli und die Bässe in aller Ruhe “rezitieren” können. Es kann hier nur eine Entscheidung für das Eine oder Andere geben, ein Mittelweg wäre ein billiger Kompromiss.“

Metzmacher geht es in seinem Artikel hauptsächlich um interpretatorische Haltungen und Klangtraditionen, mit Karajan, Furtwängler und Böhm auf der einen, Fritz Busch, Erich Kleiber und Klemperer auf der anderen Seite. Diese Diskussion soll hier nicht vertieft werden. Jedoch lesen sich die Sätze in Bezug auf Beethovens 9. Sinfonie so, als ob Metzmacher meint, der Dirigent müsse sich zwischen Presto und Rezitativ entscheiden, als ob also die gleichzeitige Erfüllung beider Forderungen Beethovens unmöglich wäre.

Natürlich hat Metzmacher recht darin, Kritik zu üben an Interpretationen, die an dieser Stelle von Beethovens 9. Sinfonie gleich nach dem Beginn des 4. Satzes das Tempo stark verlangsamen, um die Celli und Bässe in konventionellem rezitativischen Charakter spielen zu lassen. Beethovens Tempo-Forderung wäre ja nicht erfüllt. Aber genauso falsch wäre es doch offensichtlich auch, und das schreibt Metzmacher nicht, die Stelle in Presto-Tempo zu spielen und Beethovens Forderung des rezitativischen Charakters zu ignorieren.

  • Das Rezitativische in Aufnahmen von Erich Kleiber und René Leibowitz

Sollte es denn nicht möglich sein, rezitativische Elemente im Presto zu realisieren? In der Aufnahme Erich Kleibers (mit den Wiener Philharmonikern aus dem Jahre 1952) muss man als Hörer schon einigen guten Willen haben, um die Stelle als rezitativisch interpretiert anzusehen. Das Anfangstempo des Satzes jedoch wird auf jeden Fall beibehalten.

Eine wirklich plausible interpretatorische Verbindung von Presto und rezitativischem Charakter bietet für meine Ohren René Leibowitz in seiner legendären Aufnahme der Sinfonien Beethovens mit dem Royal Philharmonic Orchestra aus dem Jahr 1961: Hier ziehen zu Beginn dieser Stelle die Celli und Bässe das Tempo noch ein wenig an gegenüber dem Beginn des Satzes – das hat eine Wirkung wie Plappern, ist also unbedingt rezitativisch. Und am Schluss der Phrase wird das Tempo dann etwas zurückgenommen (das höhere Tempo zu Beginn der Phrase lässt Spielraum hierfür), so dass ein wenig Raum ist für Freiheiten, wie sie aus dem Bereich des Rezitativs bekannt sind. Am Schluss der folgenden Orchester-Phrase (T. 23-25), wo sich Celli und Bässe mit dem Rest des Orchesters kurz abwechseln, gelingt Leibowitz in dieser Abwechslung der Charakter von Rede und Gegenrede – auch dies ungemein rezitativischer als bei Kleiber.

Das Rezitativische ist gar nicht so sehr festgelegt auf ein langsames Tempo - es gibt ja auch schnelle Unterhaltungen; entscheidend sind vielmehr gewisse Unregelmäßigkeiten der zeitlichen Platzierung der Töne, die sich anlehnen an die Redeweise von Menschen und mit denen bestimmte rhetorische Wirkungen hervorgerufen werden. Einige weitere Anmerkungen zum Rezitativ befinden sich in meinem Post zu Vivaldis „La fida ninfa“.

[Ein Foto aus den Aufnahmesitzungen der Leibowitzschen Aufnahme finden Sie hier, ganz unten auf der verlinkten Seite. Die beiden beschriebenen Aufnahmen sind unter anderem bei Napster, auch im Rahmen einer Flatrate, zugänglich (die von Kleiber ist schwer zu finden: Erich Kleiber -> Alben -> Decca Recordings 1949-1955).]


B. Erkennbare Tonhöhe und Sprechgesang in Schönbergs »Pierrot lunaire«

In Byron`s Blog on Music, Performance and Research gibt Avior Byron in seinem Beitrag Evaluating Sprechstimme: What early Recordings tell us (mehr noch in seinem Draft eines vollständigen Artikels) einen sehr interessanten Überblick über die verschiedenen Meinungen von Interpreten und Kritikern zu Schönbergs Anweisungen bezüglich der Behandlung der Sprechstimme im »Pierrot lunaire« und analysiert den auf frühen Aufnahmen des Werkes dokumentierten Umgang der verschiedenen Sängerinnen mit diesem Werk.

  • Schönbergs Anweisungen für die Sprechstimme im »Pierrot lunaire«

Arnold Schönberg gibt in seinem „Vorwort“ zum »Pierrot lunaire« die folgenden Anweisungen für die Ausführung der Sprechstimme:

„Die in der Sprechstimme durch Noten angegebene Melodie ist (bis auf einzelne besonders bezeichnete Ausnahmen) nicht zum Singen bestimmt. Der Ausführende hat die Aufgabe, sie unter guter Berücksichtigung der vorgezeichneten Tonhöhen in eine Sprechmelodie umzuwandeln. Dies geschieht, indem er 1. den Rhythmus haarscharf so einhält, als ob er sänge, das heißt mit nicht mehr Freiheit, als er sich bei einer Gesangsmelodie gestatten dürfte; 2. sich des Unterschiedes zwischen Gesangston und Sprechton genau bewußt wird: der Gesangston hält die Tonhöhe unabänderlich fest, der Sprechton gibt sie zwar an, verläßt sie aber durch Fallen oder Steigen sofort wieder …“.

  • Sprechstimme in modernen Aufnahmen

Leider sind mir die von Avior Byron genannten und beschriebenen frühen Aufnahmen des »Pierrot lunaire« (unter der Leitung von Schönberg, 2x Leibowitz und Rosbaud) derzeit nicht zugänglich. Bei Napster und bei YouTube kann man jedoch eine Vielzahl von neueren Aufnahmen hören.

Es ist dabei wirklich erstaunlich, mit welcher Übereinstimmung sich fast alle Interpreten über Schönbergs ausdrückliche Forderung einer Sprechstimme („nicht zum Singen bestimmt“) hinwegsetzen. Schönbergs Anweisung des „Fallens[s] oder Steigen[s]“ der Tonhöhe wird immer umgesetzt, aber weitgehend eben nicht im Rahmen einer Sprechstimme, sondern eines Gesangstons und mit einem entsprechend anderen Charakter; so als ob man seine Anweisungen dahingehend missverstehen dürfte, dass ein Gesangston durch Fallen oder Steigen zum Sprechton würde.

  • Schönbergs Wortwahl „unter guter Berücksichtigung“

Arnold Schönberg hat seine Anweisungen mit einer bemerkenswerten Präzision formuliert, sie werden aber unter anderem von Milhaud und Boulez als rätselhaft bezeichnet. Möglicherweise ist Schönbergs Wortwahl „unter guter Berücksichtigung der vorgezeichneten Tonhöhen“ hierfür ein Grund, denn sie kann leicht missverstanden werden: nach meinem Sprachverständnis bedeutet „unter guter Berücksichtigung“ im deutschen Sprachgebrauch, anders als der eigentliche Wortsinn es nahelegen würde, dass die Einhaltung der in der Partitur vorgegebenen Tonhöhen zwar nicht unwichtig, anderen Aspekten der Interpretation jedoch untergeordnet ist.

  • Schönbergs eigene Aufnahme

Eine solche untergeordnete Beachtung der Tonhöhen ist nach übereinstimmender Beschreibung verschiedener Quellen eines der wesentlichen Charakteristika der von Schönberg geleiteten Aufnahme des Werkes mit der Sängerin Erika Stiedry-Wagner aus dem Jahr 1940. Bislang hat diese Aufnahme keine auktoriale, den Intentionen des Komponisten entsprechende Aufführungstradition hervorrufen können, stattdessen wird immer wieder in Zweifel gezogen, dass sie Schönbergs Intentionen tatsächlich entsprach. Über das 2008 erschienene Buch Sprechstimme in Arnold Schoenberg's Pierrot lunaire: A Study of Vocal Performance Practice berichtet Avior Byron: „[the author] Aidan Soder suggested that Schoenberg did not have enough rehearsal time and that the final product on Schoenberg’s recording is perhaps not how he heard it in his ear’ “. Das erscheint jedoch wenig überzeugend angesichts der vielen Aufführungen, in denen Stiedry-Wagner zuvor mit dem Werk aufgetreten war, und auch angesichts eines Briefes Schönbergs an den Dirigenten Hans Rosbaud im Jahr 1949, in dem er sich zwar über die Balance in seiner eigenen Aufnahme, nicht jedoch über die Beachtung der Tonhöhen unzufrieden zeigt.

  • Muss der Interpret auch analysieren?

In mehreren von Avior Byron zitierten Äußerungen wird die Beachtung der Tonhöhen mit den unterschiedlichsten Begründungen als wesentlich bezeichnet. Byron fühlt sich dabei u.a. an „Eugene Narmour’s unfortunate claim that ‘many negative consequences’ will occur ‘if formal relations are not properly analyzed by the performer’ “ erinnert. Narmours Forderung steht in offenkundigem Gegensatz zu Erklärungen von Berg und Webern, die ein solches Wissen als nur für den Komponisten wesentlich bezeichneten (bezüglich Webern siehe meinen Beitrag in einem älteren Post im Abschnitt über „Webern: Variationen op. 27). Ob es auch Zeugnisse Schönbergs zu dieser Thematik gibt, müsste am ehesten Avior Byron wissen, der an der Herausgabe bisher nicht veröffentlichter Schriften Schönbergs beteiligt ist.

  • Eigentümlichkeiten der Tonhöhe bei einer Sprechstimme

Es ist aufschlussreich, die Thematik der Tonhöhe einer Sprechstimme noch etwas zu vertiefen. Es handelt sich dabei um eine in sehr eigentümlicher Weise wahrnehmbare, technisch durchaus messbare Tonhöhe, der im Gegensatz zum Gesang der eigentliche Klang, die Resonanz fehlt. Sobald man beim Sprechen sich dieser Tonhöhe vergewissern will, ja überhaupt versucht herauszufinden, in welcher Tonhöhe man gerade gesprochen hat, kippt das Sprechen um in Richtung Singen. Insofern dürfte das eigentliche Problem bei der Interpretation der Sprechstimme in Schönbergs Sinne eben diese fehlende körperliche Rückkopplung bei den Tonhöhen sein. Wahrscheinlich bedarf es jahrelanger Übung, um die Fertigkeit, beim Sprechen eine bestimmte Tonhöhe zu treffen, zu beherrschen. Es wäre interessant zu erfahren, ob Sängern mit absolutem Gehör diese Fertigkeit leichter fällt als Sängern ohne das absolute Gehör.

Zudem scheint mir, als werde eine solche Tonhöhe beim normalen Sprechen im Deutschen etwas länger ausgehalten als etwa im Englischen und im Französischen; in diesen Sprachen ist der Anteil des Fallens und Steigens vermutlich noch größer als im Deutschen. Es ist von daher nicht verwunderlich, dass es mit Milhaud und Boulez keine deutschsprachigen Komponisten sind, die den Topos vom „Sprechstimme Enigma“ geprägt haben.

  • Aufnahmen mit Marianne Pousseur und dem Remix-Ensemble sowie Pierre Boulez

Von den aktuellen Aufnahmen scheint mir diejenige mit Marianne Pousseur und dem Remix-Ensemble Schönbergs Vorstellungen von der Sprechstimme am nächsten zu kommen. Leider ist in dieser Aufnahme die Balance wenig geglückt, die Sprechstimme ist entschieden zu leise. Hat man sich etwa von Schönbergs Aufnahme aus dem Jahr 1940 leiten lassen? Das wäre bedauerlich, denn von der Balance in seiner eigenen Aufnahme hat sich Schönberg in seinem Brief an Rosbaud im Jahre 1949 distanziert.

Auch Pierre Boulez hat »Pierrot lunaire« mit Marianne Pousseur eindrucksvoll aufgeführt, ich vermute dass er die "Sprechstimme"-Thematik nicht mehr so rätselhaft findet wie in den 60er Jahren. 2 der Stücke gibt es auf dem folgenden YouTube-Video zu hören und zu sehen.:

http://www.youtube.com/watch?v=UA5kC4QORtE