Montag, 4. Januar 2010

Interpretatorische Tempofragen: Verzögerungen und Widerstand im Ablauf von Musik sowie sich überlagernde Tempi

© Gernot von Schultzendorff 2010

POST vom 04. 01. 2010


Übersicht:

  • Ausgangspunkt: Brahms – Ein Deutsches Requiem
  • Kurze Konzertkritik
  • Musikalischer Charakter des Leides
  • 1. Stilmittel: Verzögertes Erreichen von Zählzeiten
  • Mit Verzögerungen dargestellter Charakter („gestautes Tempo“) und „Luftpausen“
  • 2. Stilmittel: Im Tempo einer Interpretation fühlbarer Widerstand, „Mikro“-Phrasierung
  • Parallel verlaufende unterschiedliche Tempi: a. Als Charakter des Tempos
  • Parallel verlaufende unterschiedliche Tempi: b. Durch Verschränkung verschiedener musikalischer Abschnitte
  • Legitimität derartiger Tempogestaltungen

Untersuchte Kompositionen:
  • Brahms: Ein Deutsches Requiem
  • Beethoven: Ah! Perfido
  • Lalo: Cellokonzert

Ausgangspunkt: Brahms - Ein Deutsches Requiem

Den Anlass zu diesen Gedanken über interpretatorische Tempofragen gab die Wiedergabe von Brahms Deutschem Requiem in einem auf der Internet-Plattform „Digital Concert Hall“ der Berliner Philharmoniker am 20. 12. 2009 live übertragenen

Konzert der Berliner Philharmoniker mit
- Helena Juntunen (Sopran),
- Gerald Finley (Bariton),
- Atlanta Symphony Orchestra Chorus
- Donald Runnicles (Dirigent).

Einen kleinen Eindruck von diesem Konzert vermag der in der Digital Concert Hall gezeigte Trailer zu geben, als Zusammenschnitt der Konzertabende wird das Brahms-Requiem in dieser Interpretation für 6 € im Archiv der Digital Concert Hall als Stream angeboten.


Kurze Konzertkritik

Die Aufführung war zweifellos von sehr hohem Niveau, der Chor aus Atlanta (der sich ausschließlich aus Amateuren zusammensetzt) sang mit einer bemerkenswert guten deutschen Aussprache und einer faszinierenden Stimmqualität. In einem während der Konzertpause gezeigten Interview (nach Registrierung in der Digital Concert Hall kostenlos abrufbar) hörten wir einige Bemerkungen des Dirigenten Donald Runnicles über das Deutsche Requiem: „This is not a requiem for the dead but it`s a requiem for those who are still living and there is something beautiful about life“. Der das Interview führende Hornist Fergus McWilliam fragte an dieser Stelle, etwas suggestiv, nach: „something very positive then?“ und Donald Runnicles bestätigte dies mit „yes“.

Entsprechend war der Charakter der meisten Teile des Werkes, sieht man von einigen der von Gerald Finley sehr ausdrucksstark gesungenen Passagen ab, in dieser Wiedergabe von einer natürlich keineswegs fröhlichen, aber doch durchgehend deutlich positiven Stimmung. Auch Werkteile, die in vielen anderen Interpretationen das angesichts des Todes empfundene Leid nachempfindbar machen, wurden ähnlich tröstlich-positiv gespielt wie die Abschnitte, die üblicherweise als hoffnungsvoll empfunden werden. Aus diesem Grund kam es nicht zu dem sonst meist eindrücklich wirkenden Kontrast zwischen leidvollen und hoffnungsvollen Passagen, die Musik beeindruckte mit einer oft überwältigenden Intensität, wurde jedoch im Vergleich zu anderen hochklassigen Wiedergaben auch als gleichförmiger empfunden.


Musikalischer Charakter des Leides

Es soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, mit welchen interpretatorischen Mitteln der Charakter des Leides, der sich in manchen Aufführungen dieses Werkes dem Hörer mit großer Deutlichkeit mitteilt, dargestellt werden kann. Zwei verschiedene Herangehensweisen, die über äußerlich messbare Parameter des Tempos an sich hinausgehen, möchte ich zu diesem Zweck genauer untersuchen. Sicherlich wird bei der Darstellung von Leid in aller Regel ein eher langsames Tempo gewählt, jedoch ist es nicht die Langsamkeit allein, mit der Leid für den Hörer nachempfindbar wird.

1. Stilmittel:
Verzögertes Erreichen von Zählzeiten

  • Musikbeispiel 1a: Brahms – Ein Deutsches Requiem (Terfel/BPhO/Abbado)

In der Interpretation des 3. Satzes des Deutschen Requiems „Herr, lehre doch mich“ durch den Bariton Bryn Terfel (in einem Mitschnitt aus Wien mit den Berliner Philharmonikern unter Claudio Abbado aus den frühen 90er Jahren)

http://www.youtube.com/watch?v=Ne4YbR0JkGI

werden (in den bei 0:13 und 1:34 beginnenden Passagen) die meisten Zählzeiten etwas verzögert erreicht gegenüber der eigentlichen Erwartung des Hörers aufgrund vielfältiger Hörerfahrungen. Da die Stimme die Haupt-Melodielinie ausformt, entsteht dieser Eindruck allein aufgrund der Gestaltung der Solo-Stimme, während das Orchester diese spezielle Art der Gestaltung nicht mitmacht. Die Gestaltungskraft des Sängers kommt gerade durch dieses zwischen Orchester und Solist etwas versetzte Erreichen der Zählzeiten besonders deutlich zur Geltung.

Eine solche sehr individuelle Gestaltungsweise steht in der Regel nur einem Solisten zur Verfügung, der ganz außerordentliche Chor dieser Aufführung (Schwedischer Rundfunkchor und Eric Ericson Kammerchor) phrasiert (ab 0:53 und 2:10) mit großer dynamischer Eindringlichkeit völlig synchron zum Orchester, die Besonderheit der Gestaltung der solistischen Passagen wird dadurch gerade unterstrichen.

Die kompositorische Faktur der dritten Solo-Passage (ab 2:51) weicht deutlich ab von den beiden ersten Passagen, gerade die schweren Zählzeiten singt der Solist meist allein, so dass eine zeitliche Versetzung zu Orchester oder Chor sich für den Hörer nicht ausmachen lässt. Die Zählzeiten, bei denen auch das Orchester mitspielt, singt Terfel weiterhin leicht versetzt, anders als in den ersten Passagen sind manche dieser Töne jetzt auch nach vorn versetzt, kommen also etwas zu früh. Die Wirkung ist, in Übereinstimmung mit der Komposition, die einer erneut gesteigerten Intensität dieser Passage.

Zusammenhang zwischen mit Verzögerungen dargestelltem Charakter („gestautes Tempo“) und „Luftpausen“

Das verzögerte Erreichen von Zählzeiten wird in neuerer Literatur über musikalische Interpretation selten thematisiert, sehr prägnant allerdings sind hier die von Adorno (in seinem Fragment „Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion“ [1946–1959, herausgegeben 2001], S. 109 und 147) gelegentlich genannten „Luftpausen“. [Eine eingehendere Untersuchung dieser Luftpausen, auch in ihrem Verhältnis zu den von Manfred Clynes behandelten „Micropauses“ soll der Gegenstand eines späteren Posts sein.] Adorno definiert oder beschreibt meines Wissens diese Luftpausen nie genauer, man ist darauf angewiesen, ihre Definition und Bedeutung bei Adorno aus dem Zusammenhang zu erschließen.

Offenbar meint Adorno gewisse Unterbrechungen des Flusses von Musik, wie sie zur Trennung von Phrasierungsabschnitten, aber auch zur interpretatorischen Nachzeichnung der musikalischen Bedeutung beispielsweise von Modulationen erforderlich sein können (siehe auch den bemerkenswerten Aufsatz „Harmonik und Aufführungspraxis“ von Hubert Moßburger in ZGMTH 6/2-3 (2009)). Die anhand der Terfelschen Brahms-Interpretation dargestellten Verzögerungen sind diesen Adornoschen Luftpausen sehr ähnlich, nur erfolgt ihr Einsatz viel gehäufter. Der Charakter solcher Luftpausen wird hier zum permanent wirksamen Stilmittel erhoben und ist in dieser Form ganz außerordentlich zur Darstellung von Leid und Traurigkeit geeignet. Terminologisch könnte man zur Kennzeichnung dieser Interpretationstechnik von einem „gestauten Tempo“ sprechen.

2. Stilmittel:
Im Tempo einer Interpretation fühlbarer „Widerstand“, „Mikro“-Phrasierung

In der musikalischen Interpretation sind die zeitlichen Abläufe innerhalb einer Zählzeit zu einem großen Teil verantwortlich für den Charakter des jeweiligen Teils der Komposition, der sich dem Hörer mitteilt. Die Armbewegungen vieler Dirigenten beschreiben den gewünschten zeitlichen Ablauf und veranlassen die Musiker zu einer entsprechenden Spielweise.

  • Musikbeispiel 1b: Brahms – Ein Deutsches Requiem (BPhO/Rattle)

Im Trailer der EMI zu der Aufnahme von Brahms’ Deutschem Requiem mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern lassen sich, für jeweils nur kurze Zeit, zwei ganz unterschiedliche Zeitverläufe innerhalb der einzelnen Zählzeit beobachten:

http://www.youtube.com/watch?v=WjA3wcv0nP4&hl

  • Von 0:21 bis 0:27 (sichtbar auch bei 0:34) zieht Simon Rattle seine Hände in einer sich nach dem Beginn der jeweiligen Zählzeit zunächst noch beschleunigenden Bewegung nach oben: Hier baut sich Spannung und Unruhe auf, ein neuer, etwas ruhigerer Abschnitt (ab 0:35) wird vorbereitet.
  • Bei 1:04 und erneut von 1:16 bis 1:18 bewegen sich die Hände des Dirigenten bereits kurz nach dem Beginn der Zählzeit mit ihrer größten Geschwindigkeit; besonders charakteristisch für die musikalische (und entsprechende dirirgiertechnische) Gestaltung dieser Zählzeiten ist eine ausgedehnte Phase der Verlangsamung des zeitlichen Verlaufes. Diese Verlangsamung unterscheidet sich deutlich von dem sozusagen normalen Ausschwingen einer Zählzeit, hier tritt noch ein retardierendes Element hinzu, das sich mit einem bewegungshemmenden Widerstand vielleicht am besten vergleichen lässt. Beklemmung und Gefühl der Trauer sind ausdrucksmäßig mit dieser Art der „Mikro“-Phrasierung eng verbunden.

Parallel verlaufende unterschiedliche Tempi:
a. Als Charakter des Tempos

Ein wahrnehmungsphysiologisches Phänomen, das mit diesen zuletzt beschriebenen Arten des zeitlichen Verlaufes von Zählzeiten verknüpft zu sein scheint, ist die für den Hörer weitgehend unbewusste Wahrnehmung zweier unterschiedlicher, parallel verlaufender Tempi in der Musikwiedergabe: Die erste Tempowahrnehmung wird ausgelöst von dem Impuls zu Beginn der jeweiligen Zählzeit, die zweite Tempowahrnehmung korrespondiert mit dem weiteren Verlauf des musikalisch wirksamen Mikrotempos innerhalb der Zählzeit, wenn denn dieser Verlauf deutlich abweicht von einer als normal angenommenen Entwicklung, oder anders ausgedrückt: sofern dieser Tempo-Verlauf der ursprünglichen musikalischen Erwartung des Hörers nicht entspricht.

Parallel verlaufende unterschiedliche Tempi:
b. Durch Verschränkung verschiedener musikalischer Abschnitte

Bei manchen Abschnitten von Werken vermag erst eine solche Interpretation die volle Ausdrucksstärke dieser Musik zur Geltung zu bringen, die verschiedene Tempi in schnellem Wechsel miteinander verschränkt, so dass in der Wahrnehmung des Hörers beide Tempi sich nicht nur abwechseln, sondern auch überlagern.

Meist wird ein relativ langsames Grundtempo von deutlich schnelleren Einwürfen unterbrochen, besonders verbreitet ist diese Spielweise in Rezitativen bzw. an Stellen mit rezitativischem Charakter.

  • Musikbeispiele 2a und 2b: Beethoven - Ah! perfido (Nilsson/RAI/Sawallisch und Studer/BPhO/Abbado)

Birgit Nilssons Interpretation des Beginns von Beethovens Konzertarie „Ah! Perfido“ (mit dem Orchestra RAI unter Wolfgang Sawallisch) zeigt ein derartiges Abwechseln zwischen verschiedenen Tempi, das beide Tempi gleichzeitig in der Wahrnehmung des Hörers wirksam sein lässt: Auf eine vergleichsweise schnelle Orchestereinleitung folgt (von 0:18 bis 0:29) die sehr deutlich langsamer genommene erste Solo-Passage; diese wird von zwei Orchestereinwürfen unterbrochen, die aufgrund der Prägnanz, mit der die Auftakte rhythmisch markiert werden, eher das schnellere Tempo der Orchestereinleitung bewahren, als dass sie sich auf das Tempo der Sängerin einließen. Ohnehin wird das Tempo der Einleitung nach dieser Solo-Passage vom Orchester gleich wieder aufgenommen. Die beiden in dieser Einleitung parallel wahrgenommenen Tempi erzeugen eine Innenspannung, die dieser Passage in hohem Maße gerecht wird.

Den Vergleich mit einer in Bezug auf die Tempogestaltung gleichmäßigeren, ebenfalls hochklassigen Interpretation bietet Cheryl Studer (in einer Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter Claudio Abbado):

http://www.youtube.com/watch?v=rn7RvjfryJ4

  • Musikbeispiele 3a und 3b: Lalo – Cellokonzert (du Pré/Cleveland/Barenboim und Phillips)

Ein ähnliches Bild wie im vorigen Musikbeispiel, jedoch von deutlich weniger rezitativischem Charakter, zeigt sich zu Beginn des ersten Satzes von Lalos Cellokonzert. Jacqueline du Pré (in ihrer Aufnahme mit dem Cleveland Orchestra unter Daniel Barenboim)

http://www.youtube.com/watch?v=pu0oWLQugng

nimmt das Tempo in ihrem ersten Solo (0:33 bis 1:48) ebenfalls deutlich langsamer als es in der Orchestereinleitung vorgegeben wurde. Das Orchester beharrt in seinen Einwürfen in dieses Solo zunächst auf seinem ursprünglichen Tempo, um am Schluss (ab 1:34) auf sehr berührende Weise auf das Tempo der Solistin einzugehen. Der Eindruck von zwei parallel verlaufenden Tempi ist in dieser Interpretation besonders ausgeprägt.

Auch hier soll durch den Vergleich mit einer Interpretation, die eine solche Tempo-Innenspannung nicht erzeugt, die besondere musikalische Wirksamkeit dieser Interpretationsweise verdeutlicht werden; in einer Aufnahme, von der ich Orchester und Dirigent nicht ermitteln konnte, spielt der Cellist Xavier Phillips die erste Solo-Passage des Cellokonzertes von Lalo im gleichen Tempo, wie es durch die Orchestereinleitung vorgegeben wurde.

http://www.youtube.com/watch?v=a1T4-i3XuIY


Legitimität komplexer Tempogestaltungen

Die Frage, ob Tempogestaltungen wie die zuletzt beschriebenen durch Anweisungen des Komponisten gedeckt sind, wird in diesem Post nicht eigens untersucht. Ohne Zweifel waren und sind sie interpretatorische Praxis in rezitativischen Zusammenhängen. Inwieweit sie im Einzelfall geeignet sind, bestimmten Stellen in Kompositionen zu interpretatorischer Wahrheit zu verhelfen, ist weniger eine Frage von Willkür des Interpreten als vielmehr, im Falle des Gelingens, eine Frage der künstlerischen Balance zwischen Kreativität und Integrität.

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