Donnerstag, 18. März 2010

Kongenialer Berlioz (»Symphonie fantastique« mit dem Boston Symphony Orchestra unter Charles Munch)

© Gernot von Schultzendorff 2010

POST vom 18. 03. 2010


Übersicht:

  • Kongenialität
  • »Fingergewohnheiten«
  • Das »Exzentrische« und das »Bizarre«
  • Eindrücke sui generis
  • Umgang mit dem Tempo
  • Metrisch ungebundener Ausdruck
  • Weitere Beobachtungen


In dem Blog Today`s Classical Music Video wird immer wieder auf Video-Perlen klassischer Musik aufmerksam gemacht, die auf YouTube zu finden sind. Das Thema am 12.2.2010 war der letzte Satz von Berlioz´ Symphonie fantastique mit dem Boston Symphony Orchestra unter Charles Munch – ein Video aus dem Jahr 1962, das vor einigen Jahren auch auf der Teldec-DVD The Art of Conducting – Legendary Conductors of a Golden Era veröffentlicht worden ist.

In diesem Post nun soll der erste Satz der Symphonie fantastique besprochen werden, der als Teil desselben Konzertmitschnittes, leider mit einem störenden zeitlichen Versatz zwischen Video und Audio, ebenfalls auf YouTube greifbar ist:

Url: http://www.youtube.com/watch?v=_s0wMe7bfMQ

sowie der Schluss des ersten Satzes:

Url: http://www.youtube.com/watch?v=lzCTUT8XdTs


Kongenialität

Auch wenn es selbstverständlich viele großartige Interpretationen klassischer Musik gibt und gegeben hat – nur in einigen sehr seltenen Fällen kam und kommt es zu einer wirklichen Anverwandlung der Musik eines Komponisten durch einen Interpreten, die vom Publikum als kongenial empfunden wird. Die gegenwärtigen Interpreten in dieser Hinsicht einzuordnen wäre sicher voreilig, und ich nenne lieber einige historische Namen in Verbindung mit bestimmten Kompositionen: Schuberts Klaviersonaten gespielt von Artur Schnabel, Chopins Etüden in der Interpretation Alfred Cortots, Maria Callas als Norma.

Im Zusammenhang mit dem Dirigenten Charles Munch wird immer wieder, nach meiner Meinung völlig zu Recht, das Außerordentliche und Besondere seiner Berlioz-Interpretationen hervorgehoben. Man mag vielleicht zögern, sie tatsächlich als kongenial zu bezeichnen, in jedem Fall aber vermitteln sie Einblicke in die Werke dieses Komponisten, die deren inneren Geist auf eine von anderen Interpreten nicht realisierte Weise erfassen und dem Hörer vermitteln.

Den Interpreten unserer Epoche scheint die Annäherung an dieses Werk nicht in einem solchen Maße zu gelingen. Eher als aktuelle Aufnahmen scheint mir eine noch ältere Einspielung dieses Werkes die Sphären allerhöchster Interpretationskunst zu erreichen, auf gepflegtere und wenn man so will bürgerlichere Weise als Charles Munch, es handelt sich um die Aufnahme mit Bruno Walter und dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire in Paris aus dem Jahr 1939.


»Fingergewohnheiten«

In seinen Mémoires schreibt Berlioz: »Ich kann dem Zufall danken, der mich in die Notwendigkeit versetzt hat, still und frei komponieren zu lernen. Er hat mich vor der für den Gedanken so gefährlichen Tyrannei der Fingergewohnheiten bewahrt.«

Das ist nun wirklich eine interessante Formulierung ästhetischer Wahrheiten. Denn diese »Fingergewohnheiten« überdecken ja tatsächlich leicht den »Gedanken«; bei Kompositionen spricht man gerne von dem, was »zwischen den Noten steht«, und das hat es, eben aufgrund der »Fingergewohnheiten«, in vielen Fällen schwer, zur Geltung zu kommen. Auch im interpretatorischen Bereich lässt sich sinnvollerweise von »Fingergewohnheiten« sprechen, mit denen die Interpreten zunächst einmal den reibungslosen Ablauf einer Aufführung sicherstellen, und oft haben es Interpretationsansätze, die nicht auf solchen »Fingergewohnheiten« beruhen, im musikalischen Alltag schwer, sich durchzusetzen, auch wenn sie der jeweiligen Komposition gemäßer wären als die den Musikern und den Hörern vertrauten Schemata.

Berlioz´ Symphonie fantastique nun scheint eine Aufführungsweise, die auf interpretatorische Art ebenfalls nicht von den »Fingergewohnheiten« ausgeht, ganz besonders angemessen zu sein; eben dies ist ein wichtiges Element, das zu dem besonderen Rang von Charles Munchs Berlioz-Interpretationen beiträgt.


Das »Exzentrische« und das »Bizarre«

»Der Vorwurf des ›Exzentrischen‹ und des ›Bizarren‹ gehörte, seit den frühen Kritiken von Fétis, zu den Grundvokabeln akademisch-konservativer Berlioz-Kritik, der französischen wie der deutschen«, lesen wir in Wolfgang Dömlings Buch Hector Berlioz – Die symphonisch-dramatischen Werke (1979). Und weiter: »Bei Schumann, dessen biedermeierliche Züge unübersehbar sind, [entsteht] Angst. ›Freilich soll die Kunst‹, heißt es einmal [bei Schumann], ›unglückliche Lebensoktaven und –quinten nicht nachspielen, sondern verdecken.‹ Und daher auch die treuherzige Mahnung an Berlioz, ›daß er das Excentrische seiner Richtung immer mehr mäßige‹.

Ein solcher Eindruck des »Exzentrischen« und des »Bizarren« wird zu einem nicht unerheblichen Teil auch von der Interpretation beeinflusst. Zugegeben, im fünften Satz der Symphonie fantastique, im Hexensabbat, wird kaum ein Interpret die Intentionen des Komponisten anders als eben bizarr auffassen und wiedergeben. Aber der erste Satz der Symphonie fantastique, betitelt »Rêveries« (Träumereien, Schwärmereien, Phantastereien), erklingt in unserer Zeit doch erstaunlich oft wie von einem klassischen Formideal beseelt, seltsam zahm und maßhaltend, als ob eben die Forderungen Schumanns wenn schon nicht in der Komposition, so doch in der Interpretation sich zu erfüllen hätten.


Eindrücke sui generis

Munch hingegen lässt in den »Schwärmereien« glutvolle Ausdrucks-Intensität verströmen, und nach meiner Meinung verwirklicht eben solch eine Darstellungsweise auf der Ebene der Interpretation in hohem Maße das, was Berlioz in seiner berühmten Instrumentationslehre zu Beginn des Kapitels »Die Instrumente« über Eindrücke sui generis schreibt – bei Berlioz betrifft das in diesem Kontext Fragen der Instrumentation, es lässt sich das Gesagte aber gut auf den Bereich der Interpretation übertragen: »Der Gebrauch dieser verschiedenen Klangelemente und ihre Anwendung – sei es, Melodie, Harmonie oder Rhythmus eine Färbung zu geben, sei es, Eindrücke sui generis hervorzubringen (motiviert durch eine Ausdrucksintention oder nicht), unabhängig von der Mitwirkung der drei anderen großen Mächte der Musik [damit meint er eben Melodie, Harmonie und Rhythmus] – konstituiert die Kunst der Instrumentation« [Übersetzung von Wolfgang Dömling].

Bei Munchs Interpretation nun handelt es sich nicht etwa nur um eine musikalische Wiedergabe des Notentextes, die diesen analog zum eben zitierten Text interpretatorisch färbt, nein, Munch nimmt das Stück entschlossen in die Hand, und lässt, ohne es im mindesten zu entstellen, die Wiedergabe zu einem ursprünglichen Erlebnis werden, er verleiht ihr eine Eindrücklichkeit sui generis.

Es ist eine interessante ästhetische Frage, ob nicht eben eine solche Interpretationsweise sui generis, wenn sie denn gelingt und nicht auf bloße Willkürlichkeit hinausläuft, das eigentliche Ziel des musikalischen Intepretierens zu sein hat. Diesem Ziel so oft wie möglich nahezukommen, ist, wie mir scheint, auch in der gegenwärtigen Phase der Entwicklung der Interpretation von großer Bedeutung. Denn das musikalisch-interpretatorische Niveau und die interpretatorische Erfülltheit haben zweifellos mitzuwachsen, wenn andere, im Grunde äußerliche Parameter der musikalischen Wiedergabe sich immer weiterentwickeln, wie wir es zum einen derzeit bei dem instrumentalen Niveau der jungen Musikergeneration beobachten, und wie man es zum anderen auch von vielen zu einer erstaunlichen Vollkommenheit (klanglich und in Bezug auf den Schnitt) produzierten Aufnahmen der jüngeren Zeit sagen kann.


Umgang mit dem Tempo

Die schiere Fülle an unterschiedlichen Tempi, die sich in Munchs Interpretation des ersten Satzes der Symphonie fantastique findet, erinnert durchaus an die Interpretationsweise Nikischs in seiner Aufnahme von Beethovens Eroica, beschrieben in einem meiner früheren Posts. Während dieses von Nikisch und Munch praktizierte Verfahren, Differenzierung und Komplexität durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Tempi herzustellen, in der Aufnahme Nikischs eher ein ästhetisch für sich selbst stehendes und wirkendes Interpretationsprinzip darstelt, steht es bei Munch, bedingt überdies durch die ganz andere Komposition, sehr viel mehr im Dienste des Ausdrucks, und es eignet den Tempowechseln bei Munch in mehreren Fällen auch etwas entschieden Schroffes.

Für Munchs manchmal geradezu wilde Beschleunigungen und Verlangsamungen kommen mir die Ausdrücke accelerando und ritardando, obwohl sachlich natürlich korrekt, nicht so recht angebracht vor, denn Charles Munch geht mit seiner Dirigierweise über den interpretatorischen Kontext, mit dem diese Bezeichnungen üblicherweise verbunden sind, wie ich finde weit hinaus. Auch sind in mehreren Fällen die kräftigen Tempoaktionen Munchs und des Orchesters in der Partitur gar nicht eingezeichnet, sie sind, in einer verbreiteten Ausdrucksweise, von ihr nicht »gedeckt«.

Sie deshalb aber als »Freiheiten« bezeichnen, die der Interpret sich nimmt, wäre eine in diesem Fall wenig treffende Ausdrucksweise, denn es ist gerade Munchs Umgang mit dem Tempo, der der Musik in so besonderem Maße zu entsprechen scheint - so als ob der Interpret es in diesem Fall tatsächlich noch besser weiß als der Komponist, als ob er also optimale interpretatorische Lösungen gefunden hat, auf die der Komponist bei der Einrichtung der Partitur nicht gekommen ist.

Ein gutes Beispiel hierfür ist die bei Takt 43 beginnende Synkopenstelle, wir erleben bei Charles Munch ab diesem Takt eine starke Beschleunigung nach vorangegangener erheblicher Zurücknahme des Tempos (im ersten Video von 3:28 bis 3:44). Keine dieser beiden sehr deutlichen Tempoänderungen ist in der Partitur verzeichet, und doch werden dem Hörer gerade erst durch sie die immer wieder sich ändernden Gedanken, denen der seelisch leidende Künstler aus dem Programm der Symphonie fantastique nachhängt, so richtig deutlich und nachvollziehbar.


Metrisch ungebundener Ausdruck

Individuell wirkender Ausdruck in der musikalischen Interpretation macht sich stets bemerkbar durch musikalische Aktionen, die den Hörerwartungen nicht ganz entsprechen – Ausdruck in starker Intensität muss es also gelingen, sich von gewissen Vorgaben, vielleicht könnte man sogar sagen: von gewissen Fesseln zu lösen. Als eine solche Fessel kann unter anderem das musikalische Metrum wirken, und starker Ausdruck mag dann nicht nur dadurch entstehen, dass der Eindruck des Zählens durch die Musiker erfolgreich vermieden wird und dass das Metrum für den Hörer unmerklich wird, indem es in musikalischen Gestalten aufgeht (ein gutes Beispiel hierfür sind die Takte 24 – 26, im ersten Video ab 2:18). Vielmehr kann der Eindruck starken Ausdrucks auf einer hohen interpretatorischen Stufe auch durch subtil nuancierte Abweichungen der Platzierung der Töne und Akkorde von den zeitlichen Vorgaben des Metrums hervorgerufen werden, die zu einer Abschwächung der Wirkung des Metrums überhaupt führen und dem einzelnen Ton oder Akkord eine höhere Bedeutung verleihen. Denn die Vorgaben, die das Metrum der zeitlichen Platzierung von Tönen und Akkorden macht, entsprechen kaum der Spontaneität und der Vagheit menschlicher Gefühle, die sich ja jeder Steuerung und Determinierung entziehen und die bei ihrer Simulation durch Schauspieler oder Musiker um so authentischer wirken, je mehr von einer solchen Spontaneität und Vagheit sich dem Hörer vermittelt (ausdrücklich spricht Berlioz in seinem Programm zur Symphonie fantastique von »vague des passions«).

Die eigenwillige und individuelle Dirigiertechnik Munchs (bei ihm stehen die vertikalen Bewegungen deutlich im Vordergrund, beispielsweise im ersten Video bei 5:58 und 6:55 sowie im zweiten Video bei 1:45 und 2:08) scheint mir in erheblichem Maße im Dienste einer solchen Art von Ausdruck zu stehen – er dirigiert an manchen Stellen einzelne Töne, einzelne Akkorde auf eine Weise, die ihre Gebundenheit in einen Taktzusammenhang unkenntlich zu machen versucht, am offensichtlichsten im ersten Video bei 1:21 bis 1:25 (Takt 12) und im zweiten Video bei 2:26 bis 2:28 (Takte 487–489). Eben dadurch ist es ihm möglich, ihren Zusammenhang mit dem Metrum zu lockern und sie in der beschriebenen Weise ausdrucksmäßig wirken zu lassen.


Weitere Beobachtungen

In der Schluss-Stretta kommt es, im zweiten Video bei 2:17 bis 2:23 (Takte 475 – 482, Ziffer O1), zu einem Fall von einem in der Spielweise gegenüber der Notation versetzten und dadurch falsch dargestellten Metrum; diese Thematik wird ausführlich in meinem Vortrag »Verständlichkeit des Metrums« dargestellt. Munch dirigiert an dieser Stelle die Zählzeit 2 deutlich als neuen metrischen Schwerpunkt, eine zweifellos weit verbreitete, aber dennoch das Metrum verfehlende interpretatorische Praxis, die die vom Komponisten intendierte Komplexität der Passage um eine ganze Dimension verringert.

Nicht zuletzt unter kulturhistorischen Gesichtspunkten interessant ist die heutzutage fast befremdlich anmutende körperliche Beherrschtheit, ja geradezu Steifheit, mit der die Orchestermusiker ihre Darbietung ausführen. Am meisten bewegen sich noch 2 vor den Pauken sitzende Geiger (ab 2:56 im Bild des ersten Videos), sowie die Flötistin und, in geringerem Maße, der Oboist (ab 6:16). Es passt zu diesem Bild, dass die Interpretation den Hörer einerseits auf das Stärkste beeindruckt, andererseits aber über ein gewisses Maß des »den Hörer Berührens« nicht hinausgeht. An bestimmten Stellen steht sie zwar kurz davor, beim Hörer eine Art innerliche Erschütterung (siehe auch mein Post zu diesem Thema) auszulösen, entscheidet sich im entscheidenden Moment aber doch für die emotionale Beherrschtheit. Für eine über solche Beherrschtheit hinausgehende emotionale Wirkung wäre eine zusätzliche Dehnung der musikalischen Zeit erforderlich, die vermieden wird; Beispiele sind im ersten Video die schon erwähnte Stelle bei 2:19 (Takt 24, Ziffer C) und im zweiten Video der Übergang zu der »Religiosamente« überschriebenen Schlusspassage bei 3:20 (Takt 511, Ziffer R1).

Montag, 18. Januar 2010

Überproduziert und zuviel geschnitten



© Gernot von Schultzendorff 2010

POST vom 18. 01. 2010



CD-Kritik

Beethoven: Violinkonzert D-Dur op. 61 / Janine Jansen / Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen / Paavo Järvi (zusammen mit Britten: Violinkonzert / London Symphony Orchestra)
Decca 478 1530, siehe auch J. Jansens Homepage

sowie CD-Kurzkritik

Beethoven: Violinkonzert D-Dur op. 61 / Patricia Kopatchinskaja / Orchestre de Champs-Elysées / Philippe Herreweghe (zusammen mit den Violinromanzen und dem Fragment eines Violinkonzertes WoO 5 von Beethoven)
Naive 822186051740, man kann auf dem Link den 1. Satz als Stream kostenfrei hören


Während die auf der Decca-Veröffentlichung mit Beethovens Violinkonzert gekoppelte Aufnahme von Brittens Violinkonzert (J. Jansen / London Symphony Orchestra / Paavo Järvi) außerordentlich gelungen und ein großer Genuss ist, vermag es die Aufnahme des Beethovenschen Violinkonzert (J. Jansen / Kammerphilharmonie Bremen / Paavo Järvi) nicht, den Hörer zu fesseln und einen zusammenhängenden Eindruck zu vermitteln. Berichte über die Produktionsweise dokumentieren, wie Aufnahmen der Musikalität verlustig gehen können.

Übersicht:
2x Zusammentreffen von Ausdrucksmusikerin mit puristischem Orchester
Bis zu 3000 Schnitte pro CD: Der Produzent Philip Traugott
"Big Brother"
„Philip – it has to be perfect“
Musikalischer Zusammenhang und Perfektion
Detaillierte Beschreibung eines Teils der Interpretation
Die Ästhetik von Aufnahmen und Konzerten


2x Zusammentreffen von Ausdrucksmusikerin und puristischem Orchester

Einige Bedenken hatte Janine Jansen offenbar im Vorfeld ihrer Beethoven-Aufnahme:
“At first I was concerned that my approach was too Romantic,” she recalls, “and that I wouldn’t blend with the orchestra’s style of playing with little vibrato and its wonderfully pure sound. I also wondered whether the magnificent Fritz Kreisler cadenza might seem slightly anachronistic. But it has become a real part of the concerto for me over the years, as I have always played it. Paavo made it an easy decision by telling me not to worry about it and to play the cadenza I felt comfortable with and convinced by. This is such a simple truth, but it’s easy to forget these things in the stress of the moment. When we played it together for the first time my doubts simply disappeared.”

Solch ein Zusammentreffen von aus ganz unterschiedlichen interpretatorischen Richtungen kommenden Künstlern kann zweifellos zu bemerkenswerten Ergebnissen führen. Parallel zu Janine Jansens Aufnahme wurde das Violinkonzert von Beethoven auch von Patricia Kopatchinskaja eingespielt – mit dem Orchestre de Champs-Elysées unter Philippe Herreweghe, eine Kombination von Musikern also ebenfalls, die stilistisch, hier auch in ihrem Temperament kaum unterschiedlicher sein könnten. Das Ergebnis überzeugt sehr, Solistin und Dirigent gehen aufeinander zu, die Aufnahme macht auf beeindruckende Weise deutlich, wie die Unterschiedlichkeit ihrer interpretatorischen Ansätze künstlerisch fruchtbar gemacht werden kann. Ein Trailer dieser Aufnahme (den 1. Satz kann man sich unter dem oben aufgeführten Link anhören) befindet sich ebenfalls auf YouTube:

URL: http://www.youtube.com/watch?v=VKOUIEpa6cA


Bis zu 3000 Schnitte pro CD: Der Produzent Philip Traugott

Ich habe wenig Zweifel, dass auch das musikalische Zusammentreffen von Janine Jansen mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen ein künstlerischer Erfolg hätte werden können. Jedoch scheint die Art und Weise, wie diese Aufnahme produziert und geschnitten wurde, nicht geeignet gewesen zu sein, die musikalische Persönlichkeit dieser Künstlerin zur Geltung kommen zu lassen.

Die Aufnahme mit Janine Jansen, man kann sie leicht verzerrt auf YouTube hören

(1/5: die ersten 10 Minuten des 1. Satz)
URL: http://www.youtube.com/watch?v=DZr67g5gY_w

(2/5: die Fortsetzung des 1. Satzes)
URL: http://www.youtube.com/watch?v=Af8DzFaun_k

(3/5: der Schluss des 1. Satzes)
URL: http://www.youtube.com/watch?v=_2GFsutsEQs

diese Aufnahme kommt, das fiel mir zuerst an ihr auf, einfach nicht in Fahrt. Mehrfach fragte ich mich beim ersten Hören „Wann geht es denn nun endlich los?“, erst nach knapp 12 Minuten ist eine Passage zu hören, die nicht statisch wirkt, die nicht quasi in Schönheit erstarrt (auf dem 2. YouTube-file von 1:55 bis 2:37). Was fast gänzlich fehlt sind größere musikalische Bögen in der Interpretation, und es war keine große Überraschung für mich zu erfahren, dass diese Aufnahme von Philipp Traugott produziert wurde.

Das Radio-Feature „Classical Music Editing“ von Sara Fishko präsentiert die Äußerungen eines Musikers und von 2 Produzenten zum sinnvollen Umfang des Editing in der klassischen Musik, hier positioniert sich Philipp Traugott mit diesen Worten: „There can be, in a typical 60 minutes CD let`s say, as few as several hundred edits and as many as 3000. In the case of the latter obviously that means there`s an edit almost every second.“

Eine erstaunliche Äußerung fürwahr, die meisten mir bekannten Produzenten (und ich selber) arbeiten, was die Zahl der Schnitte in Aufnahmen betrifft, im Bereich von etwas einhundert bis einige hundert pro CD. Was üblicherweise eine Aufnahme mit vielen Schnitten wäre, sagen wir einmal mit 600, damit also würde Traugott gerade erst anfangen. Nun, Schnitt ist nicht gleich Schnitt, was zählt, ist zweifellos einzig das künstlerische Ergebnis. Bei der Aufnahme der Kopplung dieser CD, also des Britten-Konzerts mit dem London Symphony Orchestra beweist sich Traugott als zweifellos fähiger Produzent - nur hatte er hier wenig Einfluss auf die Interpretation, denn üblicherweise haben solche Aufnahmen mit großem Orchester aus Kostengründen eine extrem knappe Sitzungszeit, so dass nur wenige Korrekturen möglich sind.Bei der Aufnahme des Beethoven Konzerts mit der Kammerphilharmonie Bremen aber herrschten andere Produktionsbedingungen.


„Big Brother“

Über den Ablauf der Aufnahmesitzungen Philip Traugotts mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter Paavo Järvi findet man durchaus offenherzige Berichte im Internet. In den Kieler Nachrichten vom 29. 9. 2009 berichtet Ursula Böhmer über die Aufnahmen von Beethovens Pastorale:

In akribischer Arbeit werden nun in der Pastorale spieltechnische Ungenauigkeiten ausgeräumt. Philip Traugott fungiert dabei als eine Art „Big Brother“, gibt Järvi aus der Distanz heraus Anregungen. „Unsere Arbeit ist so aufgeteilt, dass Paavo seine künstlerischen Visionen mit dem Orchester auslebt“, erklärt Traugott, „während ich mit den Musikern noch mehr ins technische Detail gehe. Und das kombinieren wir dann.“

Immer wieder werden dieselben Passagen gespielt, als sogenannte „Takes“ im Computer abspeichert: An die hundert sind es nach drei Stunden. Später werden Traugott und Järvi dann die besten Aufnahmen heraussuchen. Wird das Klangergebnis bei so viel Tontechnik nicht verfälscht? „Eine Aufnahme ist etwas anderes als ein Live-Konzert“, sagt Järvi. „Mit Hilfe der Technik können wir in Details gehen, die man so im Konzert niemals hören wird. Letztlich werden wir aber einen Gesamtdurchlauf verwenden, in dem wir dann mit den einzelnen Takes eventuelle Ungenauigkeiten korrigieren können.“

100 Takes in einer Aufnahmesitzung – da kann der durchschnittliche Korrekturtake nur deutlich kürzer als 1 Minute sein, denn es wird sicher dabei auch eine Ganzfassung gemacht, es gibt Pausen, manchmal wird abgehört und es wird Zeit benötigt für die Kommunikation über das Erreichte und das Benötigte. In manchen seltenen Fällen kann es schon einmal Sinn machen, einzelne Stellen, die partout nicht klappen, in solch kurzen Takes aufzunehmen, daraus können dann gelegentlich einzelne Töne korrigiert werden.

Hier aber ist offenbar die Aufmerksamkeit verengt auf eine (im Grunde unmusikalische) Perfektion, der man erlaubt hat sich zu verselbständigen. Wie soll der Eindruck von Zusammenhang entstehen in Takes, die nur wenige Takte lang sind? Und was bleibt von Gesamtfassungen noch übrig, wenn sie von über tausend Korrekturen durchsetzt sind? Dabei klingt es übrigens auch nicht so, als ob ein Gesamtdurchlauf Grundlage des Schnittes ist, dem Beethovenschen Violinkonzert ist davon im 1. Satz, abgesehen von zwei Stellen von jeweils etwa einer halben Minute Länge, jedenfalls nichts anzumerken (YouTube 2/5 die schon erwähnte Stelle 1:55 - 2:37 und 3/5 3:42 – 4:09).


„Philip – it has to be perfect“

In dem Blog „The Paavo Project“ wird ein Artikel von Carsten Niemann aus dem Tagesspiegel vom 29.12.2009 abgedruckt, der die Aufnahme der Schumann Symphonien, ebenfalls mit der Kammerphilharmonie Bremen unter Paavo Järvi und dem Produzenten Philip Traugott, beschreibt:

„Erstaunt verfolgen die Zuhörer, wie sehr sich der Stardirigent Järvi und sein Orchester der Stimme aus dem Off anvertrauen. Gelassen folgen sie ihr sogar dort, wo Traugott einen einzelnen Akkord so lange auseinander nimmt, bis er nicht nur sauber, sondern gleißend rein klingt.“

Das entspricht durchaus Berichten aus der Szene, in denen es heißt, Teammitglieder seien manchmal regelrecht erschrocken gewesen, als sie in einer der Aufnahmesitzungen plötzlich auch einmal die Stimme des Dirigenten gehört hätten. Dieser scheint sich in der Zusammenarbeit mit Philip Traugott völlig zurück zu nehmen, und es ist schwer vorstellbar, dass er in den vielen kurzen Korrekturtakes noch interpretatorische Akzente setzen kann.

Weiter schreibt Niemann: „Järvi nachahmend, wiederholt Traugott den lakonischen Seufzer, mit dem ihn der Dirigent am ersten Tag im Tonstudio begrüßte: „Philip – it has to be perfect.“ Doch technische Perfektion ist kein Selbstzweck: So wie eine perfekte Kontrolle aus dem Regieraum dem Dirigenten erlaube, sich ganz auf den musikalischen Zusammenhang zu konzentrieren, produziert erst spieltechnische Perfektion eine Sicherheit, die es ermöglicht, dass etwas zwischen den Noten passiert. „Denn alle große Musik“, so Traugott, „spielt sich zwischen den Noten ab“.

Hört man die Aufnahme des 1. Satzes des Beethovenschen Violinkonzert, entsteht jedoch ein gegenteiliger Eindruck: Die technische Perfektion ist erscheint hier gerade als das, was in dem Artikel bestritten wird, nämlich als Selbstzweck, sie wirkt wie im Dienste ihrer selbst stehend. Welcher Hörer ist denn daran interessiert, dass die einzelnen Akkorde „gleißend rein“ sind und in dieser isolierten Reinheit zusammengesetzt werden, wie soll auf diese Weise die organische Wiedergabe eines der großen Werke der Musikliteratur entstehen? Sind denn nicht stattdessen Zusammenhänge, Spontaneität, Lebendigkeit die Merkmale einer Interpretation, mit denen die Hörer angesprochen werden? Das, was sich zwischen den Noten abspielt, wird, jedenfalls für mein Empfinden, durch die hier beschriebene und praktizierte Produktionsweise nicht etwa deutlich, vielmehr geht es verloren.


Musikalischer Zusammenhang und Perfektion

In meinem Vortrag „Schnitte und musikalischer Zusammenhang“, veröffentlicht im Tagungsbericht der 25. Tonmeistertagung Leipzig November 2008, wird zum einen beschrieben, wie skrupulös sich seinerzeit Glenn Gould, der immer wieder die Legitimität, ja Notwendigkeit von Schnitten in Aufnahmen beschwor, vergewisserte, dass seine Korrekturtakes auch in die Basistakes passten, wie sehr er also um die große Gefahr wusste, dass der musikalische Fluss durch Korrekturen zerstört werden kann. In der hier beschriebenen Aufnahme jedoch geht der Verlust von Zusammenhang, den die Ganzfassungen zweifellos hatten, so weit, dass jeder Formabschnitt, ja fast jedes neue Thema für einen Hörer, der das Stück nicht kennt, auch der Beginn des Stückes sein könnte, so sehr sind die das Zusammenhangsgefühl konstituierenden Spannungen eliminiert.

Zum anderen ist es ein Anliegen des Vortrages, das Phänomen der Inspiration in der musikalischen Interpretation zu beschreiben, in Adornos etwas pathetischen Worten „die Erweckung des dem Werke je innewohnenden Schauers.“ Das mangelnde Bewusstsein für Inspiration scheint das eigentliche Problem der Traugottschen Produktionsweise in dieser Aufnahme zu sein. Denn wenn eine wirklich gute Aufnahme entstehen soll, dann darf ein nicht wirklich inspirierter Take für den Schnitt, für die endgültige Fassung keinesfalls in Betracht gezogen werden – und für einen wirklich inspirierten Take müssen die Musiker erst zusammen finden, da müssen sie dann schon, sieht man einmal von manchen sehr schnellen Sätzen ab, in aller Regel deutlich länger als 1 Minute im Zusammenhang spielen.


Detaillierte Beschreibung eines Teils der Interpretation

Die genaue Beschreibung eines dreiminütigen Abschnitts der Aufnahme (aus einer Art Protokoll, das ich beim Anhören führte) mag das Gemeinte noch stärker verdeutlichen [die Zeitangaben beziehen sich auf das YouTube-file 2/5, also den 2. Teil des 1. Satzes]:

"Immer wieder fallen in dieser Aufnahme kleine Stellen von bemerkenswerter Delikatesse, von Witz im Kleinen auf, z.B. bei 1:27 (in 2/5), aber das entwickelt sich dann fast stets nicht weiter. Bei 1:55 kommt endlich einmal ein auf den Hörer überspringender Funke (also nach fast 12 Minuten des Stückes!!), aber bei 2:37 geht es dann schon wieder in einen Take, dem eben diese Besonderheit und Inspiration mangelt, der vergleichsweise fast stehen bleibt. Bei 3:11 tritt das Orchesters allmählich zur Solistin hinzu – wie uninspiriert, lediglich auf Präzision bedacht ist diese Stelle!

Das Orchestertutti bei 3:18 ist für sich betrachtet durchaus beeindruckend gespielt. Aber gleich darauf entwickelt sich fast nichts, da ist in eine außermusikalische Statik hineinproduziert worden, kulminierend in der Passage 3:37 bis 3:46: arg unlebendig klingt hier das Anfangsmotiv des Satzes mit den vier aufeinanderfolgenden Vierteln des gleichen Tones!

Und so versucht man sich als Hörer wenigstens an einzelnen Tönen zu begeistern, die manchmal überirdisch gut gelingen, wie etwa bei 4:39. Jedoch müsste einem der Atem eigentlich auch stocken bei dem Übergang bei 4:44 - indessen wirkt diese Stelle in der Interpretation geradezu trivial."


Die Ästhetik von Aufnahmen und Konzerten

Wenn man weiß, auf welch hohem musikalischen und technischen Niveau die Kammerphilharmonie Bremen und erst recht Janine Jansen Musik machen – dann bin ich mir ganz sicher, dass sich, in einem Klima der Inspiration, eine völlig hinreichend perfekte Aufnahme produzieren ließe mit: 2 oder 3 Ganzfassungen, einigen mit Übergängen aufgenommenen großen Abschnitten (Orchestereinleitung, Durchführung usw.) sowie mit ein paar zusätzlichen kleinen Korrekturen.

Bei dieser Aufnahme, die eher nicht so günstige Kritiken (siehe z.B. im All Music Guide) erhalten hat und beispielsweise auch die YouTube-Hörer wenig anzusprechen scheint (siehe die Kommentare dort), besteht kaum Gefahr, dass sie einmal in ihrer Ästhetik als maßstabsetzend angesehen wird. Aber manch ähnliche Aufnahme, die nicht ganz so deutlich der aus Konzerten bekannten Musikalität des Interpreten widerspricht, wird leicht als „analytisch“ und „erfreulich unromantisch“ gelobt, wo es sich doch meist eher um eine analytische Produktion denn um eine analytische Interpretation, in der Regel auf Kosten von Inspiration und Lebendigkeit, handelt.

Zu berücksichtigen ist dabei noch, dass immer wieder die Perfektion von Aufnahmen zum Maßstab gemacht wird für die Beurteilung von Konzerten. So fühlt sich mancher Künstler genötigt, in Konzerten einen großen Teil der Konzentration auf lupenreine Perfektion zu legen, worunter wiederum in aller Regel die Musikalität leidet. Und es besteht die Gefahr, ja ist es bereits gelegentlich zu beobachten, dass die Ästhetik vieler Aufnahmen, die aufgrund des ausufernden Schnittes die großen Zusammenhänge nicht wahrnehmbar werden lässt, auch in Konzerten zu dominieren beginnt, dass also an die Stelle einer ganzheitlichen Darbietung und eines entsprechenden ganzheitlichen Hörerlebnisses die Betonung und Hervorhebung einzelner aufeinander folgender und weitgehend beziehungslos nebeneinander stehender Passagen und Momente tritt.

Montag, 4. Januar 2010

Interpretatorische Tempofragen: Verzögerungen und Widerstand im Ablauf von Musik sowie sich überlagernde Tempi

© Gernot von Schultzendorff 2010

POST vom 04. 01. 2010


Übersicht:

  • Ausgangspunkt: Brahms – Ein Deutsches Requiem
  • Kurze Konzertkritik
  • Musikalischer Charakter des Leides
  • 1. Stilmittel: Verzögertes Erreichen von Zählzeiten
  • Mit Verzögerungen dargestellter Charakter („gestautes Tempo“) und „Luftpausen“
  • 2. Stilmittel: Im Tempo einer Interpretation fühlbarer Widerstand, „Mikro“-Phrasierung
  • Parallel verlaufende unterschiedliche Tempi: a. Als Charakter des Tempos
  • Parallel verlaufende unterschiedliche Tempi: b. Durch Verschränkung verschiedener musikalischer Abschnitte
  • Legitimität derartiger Tempogestaltungen

Untersuchte Kompositionen:
  • Brahms: Ein Deutsches Requiem
  • Beethoven: Ah! Perfido
  • Lalo: Cellokonzert

Ausgangspunkt: Brahms - Ein Deutsches Requiem

Den Anlass zu diesen Gedanken über interpretatorische Tempofragen gab die Wiedergabe von Brahms Deutschem Requiem in einem auf der Internet-Plattform „Digital Concert Hall“ der Berliner Philharmoniker am 20. 12. 2009 live übertragenen

Konzert der Berliner Philharmoniker mit
- Helena Juntunen (Sopran),
- Gerald Finley (Bariton),
- Atlanta Symphony Orchestra Chorus
- Donald Runnicles (Dirigent).

Einen kleinen Eindruck von diesem Konzert vermag der in der Digital Concert Hall gezeigte Trailer zu geben, als Zusammenschnitt der Konzertabende wird das Brahms-Requiem in dieser Interpretation für 6 € im Archiv der Digital Concert Hall als Stream angeboten.


Kurze Konzertkritik

Die Aufführung war zweifellos von sehr hohem Niveau, der Chor aus Atlanta (der sich ausschließlich aus Amateuren zusammensetzt) sang mit einer bemerkenswert guten deutschen Aussprache und einer faszinierenden Stimmqualität. In einem während der Konzertpause gezeigten Interview (nach Registrierung in der Digital Concert Hall kostenlos abrufbar) hörten wir einige Bemerkungen des Dirigenten Donald Runnicles über das Deutsche Requiem: „This is not a requiem for the dead but it`s a requiem for those who are still living and there is something beautiful about life“. Der das Interview führende Hornist Fergus McWilliam fragte an dieser Stelle, etwas suggestiv, nach: „something very positive then?“ und Donald Runnicles bestätigte dies mit „yes“.

Entsprechend war der Charakter der meisten Teile des Werkes, sieht man von einigen der von Gerald Finley sehr ausdrucksstark gesungenen Passagen ab, in dieser Wiedergabe von einer natürlich keineswegs fröhlichen, aber doch durchgehend deutlich positiven Stimmung. Auch Werkteile, die in vielen anderen Interpretationen das angesichts des Todes empfundene Leid nachempfindbar machen, wurden ähnlich tröstlich-positiv gespielt wie die Abschnitte, die üblicherweise als hoffnungsvoll empfunden werden. Aus diesem Grund kam es nicht zu dem sonst meist eindrücklich wirkenden Kontrast zwischen leidvollen und hoffnungsvollen Passagen, die Musik beeindruckte mit einer oft überwältigenden Intensität, wurde jedoch im Vergleich zu anderen hochklassigen Wiedergaben auch als gleichförmiger empfunden.


Musikalischer Charakter des Leides

Es soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, mit welchen interpretatorischen Mitteln der Charakter des Leides, der sich in manchen Aufführungen dieses Werkes dem Hörer mit großer Deutlichkeit mitteilt, dargestellt werden kann. Zwei verschiedene Herangehensweisen, die über äußerlich messbare Parameter des Tempos an sich hinausgehen, möchte ich zu diesem Zweck genauer untersuchen. Sicherlich wird bei der Darstellung von Leid in aller Regel ein eher langsames Tempo gewählt, jedoch ist es nicht die Langsamkeit allein, mit der Leid für den Hörer nachempfindbar wird.

1. Stilmittel:
Verzögertes Erreichen von Zählzeiten

  • Musikbeispiel 1a: Brahms – Ein Deutsches Requiem (Terfel/BPhO/Abbado)

In der Interpretation des 3. Satzes des Deutschen Requiems „Herr, lehre doch mich“ durch den Bariton Bryn Terfel (in einem Mitschnitt aus Wien mit den Berliner Philharmonikern unter Claudio Abbado aus den frühen 90er Jahren)

http://www.youtube.com/watch?v=Ne4YbR0JkGI

werden (in den bei 0:13 und 1:34 beginnenden Passagen) die meisten Zählzeiten etwas verzögert erreicht gegenüber der eigentlichen Erwartung des Hörers aufgrund vielfältiger Hörerfahrungen. Da die Stimme die Haupt-Melodielinie ausformt, entsteht dieser Eindruck allein aufgrund der Gestaltung der Solo-Stimme, während das Orchester diese spezielle Art der Gestaltung nicht mitmacht. Die Gestaltungskraft des Sängers kommt gerade durch dieses zwischen Orchester und Solist etwas versetzte Erreichen der Zählzeiten besonders deutlich zur Geltung.

Eine solche sehr individuelle Gestaltungsweise steht in der Regel nur einem Solisten zur Verfügung, der ganz außerordentliche Chor dieser Aufführung (Schwedischer Rundfunkchor und Eric Ericson Kammerchor) phrasiert (ab 0:53 und 2:10) mit großer dynamischer Eindringlichkeit völlig synchron zum Orchester, die Besonderheit der Gestaltung der solistischen Passagen wird dadurch gerade unterstrichen.

Die kompositorische Faktur der dritten Solo-Passage (ab 2:51) weicht deutlich ab von den beiden ersten Passagen, gerade die schweren Zählzeiten singt der Solist meist allein, so dass eine zeitliche Versetzung zu Orchester oder Chor sich für den Hörer nicht ausmachen lässt. Die Zählzeiten, bei denen auch das Orchester mitspielt, singt Terfel weiterhin leicht versetzt, anders als in den ersten Passagen sind manche dieser Töne jetzt auch nach vorn versetzt, kommen also etwas zu früh. Die Wirkung ist, in Übereinstimmung mit der Komposition, die einer erneut gesteigerten Intensität dieser Passage.

Zusammenhang zwischen mit Verzögerungen dargestelltem Charakter („gestautes Tempo“) und „Luftpausen“

Das verzögerte Erreichen von Zählzeiten wird in neuerer Literatur über musikalische Interpretation selten thematisiert, sehr prägnant allerdings sind hier die von Adorno (in seinem Fragment „Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion“ [1946–1959, herausgegeben 2001], S. 109 und 147) gelegentlich genannten „Luftpausen“. [Eine eingehendere Untersuchung dieser Luftpausen, auch in ihrem Verhältnis zu den von Manfred Clynes behandelten „Micropauses“ soll der Gegenstand eines späteren Posts sein.] Adorno definiert oder beschreibt meines Wissens diese Luftpausen nie genauer, man ist darauf angewiesen, ihre Definition und Bedeutung bei Adorno aus dem Zusammenhang zu erschließen.

Offenbar meint Adorno gewisse Unterbrechungen des Flusses von Musik, wie sie zur Trennung von Phrasierungsabschnitten, aber auch zur interpretatorischen Nachzeichnung der musikalischen Bedeutung beispielsweise von Modulationen erforderlich sein können (siehe auch den bemerkenswerten Aufsatz „Harmonik und Aufführungspraxis“ von Hubert Moßburger in ZGMTH 6/2-3 (2009)). Die anhand der Terfelschen Brahms-Interpretation dargestellten Verzögerungen sind diesen Adornoschen Luftpausen sehr ähnlich, nur erfolgt ihr Einsatz viel gehäufter. Der Charakter solcher Luftpausen wird hier zum permanent wirksamen Stilmittel erhoben und ist in dieser Form ganz außerordentlich zur Darstellung von Leid und Traurigkeit geeignet. Terminologisch könnte man zur Kennzeichnung dieser Interpretationstechnik von einem „gestauten Tempo“ sprechen.

2. Stilmittel:
Im Tempo einer Interpretation fühlbarer „Widerstand“, „Mikro“-Phrasierung

In der musikalischen Interpretation sind die zeitlichen Abläufe innerhalb einer Zählzeit zu einem großen Teil verantwortlich für den Charakter des jeweiligen Teils der Komposition, der sich dem Hörer mitteilt. Die Armbewegungen vieler Dirigenten beschreiben den gewünschten zeitlichen Ablauf und veranlassen die Musiker zu einer entsprechenden Spielweise.

  • Musikbeispiel 1b: Brahms – Ein Deutsches Requiem (BPhO/Rattle)

Im Trailer der EMI zu der Aufnahme von Brahms’ Deutschem Requiem mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern lassen sich, für jeweils nur kurze Zeit, zwei ganz unterschiedliche Zeitverläufe innerhalb der einzelnen Zählzeit beobachten:

http://www.youtube.com/watch?v=WjA3wcv0nP4&hl

  • Von 0:21 bis 0:27 (sichtbar auch bei 0:34) zieht Simon Rattle seine Hände in einer sich nach dem Beginn der jeweiligen Zählzeit zunächst noch beschleunigenden Bewegung nach oben: Hier baut sich Spannung und Unruhe auf, ein neuer, etwas ruhigerer Abschnitt (ab 0:35) wird vorbereitet.
  • Bei 1:04 und erneut von 1:16 bis 1:18 bewegen sich die Hände des Dirigenten bereits kurz nach dem Beginn der Zählzeit mit ihrer größten Geschwindigkeit; besonders charakteristisch für die musikalische (und entsprechende dirirgiertechnische) Gestaltung dieser Zählzeiten ist eine ausgedehnte Phase der Verlangsamung des zeitlichen Verlaufes. Diese Verlangsamung unterscheidet sich deutlich von dem sozusagen normalen Ausschwingen einer Zählzeit, hier tritt noch ein retardierendes Element hinzu, das sich mit einem bewegungshemmenden Widerstand vielleicht am besten vergleichen lässt. Beklemmung und Gefühl der Trauer sind ausdrucksmäßig mit dieser Art der „Mikro“-Phrasierung eng verbunden.

Parallel verlaufende unterschiedliche Tempi:
a. Als Charakter des Tempos

Ein wahrnehmungsphysiologisches Phänomen, das mit diesen zuletzt beschriebenen Arten des zeitlichen Verlaufes von Zählzeiten verknüpft zu sein scheint, ist die für den Hörer weitgehend unbewusste Wahrnehmung zweier unterschiedlicher, parallel verlaufender Tempi in der Musikwiedergabe: Die erste Tempowahrnehmung wird ausgelöst von dem Impuls zu Beginn der jeweiligen Zählzeit, die zweite Tempowahrnehmung korrespondiert mit dem weiteren Verlauf des musikalisch wirksamen Mikrotempos innerhalb der Zählzeit, wenn denn dieser Verlauf deutlich abweicht von einer als normal angenommenen Entwicklung, oder anders ausgedrückt: sofern dieser Tempo-Verlauf der ursprünglichen musikalischen Erwartung des Hörers nicht entspricht.

Parallel verlaufende unterschiedliche Tempi:
b. Durch Verschränkung verschiedener musikalischer Abschnitte

Bei manchen Abschnitten von Werken vermag erst eine solche Interpretation die volle Ausdrucksstärke dieser Musik zur Geltung zu bringen, die verschiedene Tempi in schnellem Wechsel miteinander verschränkt, so dass in der Wahrnehmung des Hörers beide Tempi sich nicht nur abwechseln, sondern auch überlagern.

Meist wird ein relativ langsames Grundtempo von deutlich schnelleren Einwürfen unterbrochen, besonders verbreitet ist diese Spielweise in Rezitativen bzw. an Stellen mit rezitativischem Charakter.

  • Musikbeispiele 2a und 2b: Beethoven - Ah! perfido (Nilsson/RAI/Sawallisch und Studer/BPhO/Abbado)

Birgit Nilssons Interpretation des Beginns von Beethovens Konzertarie „Ah! Perfido“ (mit dem Orchestra RAI unter Wolfgang Sawallisch) zeigt ein derartiges Abwechseln zwischen verschiedenen Tempi, das beide Tempi gleichzeitig in der Wahrnehmung des Hörers wirksam sein lässt: Auf eine vergleichsweise schnelle Orchestereinleitung folgt (von 0:18 bis 0:29) die sehr deutlich langsamer genommene erste Solo-Passage; diese wird von zwei Orchestereinwürfen unterbrochen, die aufgrund der Prägnanz, mit der die Auftakte rhythmisch markiert werden, eher das schnellere Tempo der Orchestereinleitung bewahren, als dass sie sich auf das Tempo der Sängerin einließen. Ohnehin wird das Tempo der Einleitung nach dieser Solo-Passage vom Orchester gleich wieder aufgenommen. Die beiden in dieser Einleitung parallel wahrgenommenen Tempi erzeugen eine Innenspannung, die dieser Passage in hohem Maße gerecht wird.

Den Vergleich mit einer in Bezug auf die Tempogestaltung gleichmäßigeren, ebenfalls hochklassigen Interpretation bietet Cheryl Studer (in einer Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter Claudio Abbado):

http://www.youtube.com/watch?v=rn7RvjfryJ4

  • Musikbeispiele 3a und 3b: Lalo – Cellokonzert (du Pré/Cleveland/Barenboim und Phillips)

Ein ähnliches Bild wie im vorigen Musikbeispiel, jedoch von deutlich weniger rezitativischem Charakter, zeigt sich zu Beginn des ersten Satzes von Lalos Cellokonzert. Jacqueline du Pré (in ihrer Aufnahme mit dem Cleveland Orchestra unter Daniel Barenboim)

http://www.youtube.com/watch?v=pu0oWLQugng

nimmt das Tempo in ihrem ersten Solo (0:33 bis 1:48) ebenfalls deutlich langsamer als es in der Orchestereinleitung vorgegeben wurde. Das Orchester beharrt in seinen Einwürfen in dieses Solo zunächst auf seinem ursprünglichen Tempo, um am Schluss (ab 1:34) auf sehr berührende Weise auf das Tempo der Solistin einzugehen. Der Eindruck von zwei parallel verlaufenden Tempi ist in dieser Interpretation besonders ausgeprägt.

Auch hier soll durch den Vergleich mit einer Interpretation, die eine solche Tempo-Innenspannung nicht erzeugt, die besondere musikalische Wirksamkeit dieser Interpretationsweise verdeutlicht werden; in einer Aufnahme, von der ich Orchester und Dirigent nicht ermitteln konnte, spielt der Cellist Xavier Phillips die erste Solo-Passage des Cellokonzertes von Lalo im gleichen Tempo, wie es durch die Orchestereinleitung vorgegeben wurde.

http://www.youtube.com/watch?v=a1T4-i3XuIY


Legitimität komplexer Tempogestaltungen

Die Frage, ob Tempogestaltungen wie die zuletzt beschriebenen durch Anweisungen des Komponisten gedeckt sind, wird in diesem Post nicht eigens untersucht. Ohne Zweifel waren und sind sie interpretatorische Praxis in rezitativischen Zusammenhängen. Inwieweit sie im Einzelfall geeignet sind, bestimmten Stellen in Kompositionen zu interpretatorischer Wahrheit zu verhelfen, ist weniger eine Frage von Willkür des Interpreten als vielmehr, im Falle des Gelingens, eine Frage der künstlerischen Balance zwischen Kreativität und Integrität.

Montag, 12. Oktober 2009

CD-Kritik: Brahms - 2. Symphonie / Berliner Philharmoniker / Rattle


© Gernot von Schultzendorff 2009

POST vom 12. 10. 2009


CD - Kritik

Brahms: Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 73 / Berliner Philharmoniker / Simon Rattle [aus der aktuellen Gesamtaufnahme der Symphonien]
EMI 2672542


Daran anknüpfende Themen:

  • Metrische Sogwirkung verleiht rätselhaften Passagen Sinn
  • Metrizität
  • Striktheit des Tempos versus Individualität einzelner Passagen
  • Große musikalische Bögen

Als Appetizer für den Video-Download bei der „Digital Concert Hall“-Plattform der Berliner Philharmoniker findet man bei YouTube folgendes Video mit dem Beginn des 4. Satzes der 2. Symphonie von Johannes Brahms.

URL: http://www.youtube.com/watch?v=4HXP90yzvrk


In vielerlei Hinsicht verweigert sich Rattles Interpretation tiefverwurzelten Hörerwartungen und setzt auf ein metrisch-rhythmisch sowie im Tempo strikt durchgehaltenes Konzept – mit teils (vor allem im Metrisch-Rhythmischen) großartigen, teils (vor allem was die Tempogestaltung des 1. und 3. Satzes angeht) aber auch weniger überzeugenden Ergebnissen.


Metrische Sogwirkung verleiht rätselhaften Passagen Sinn

So bekannt und vielgespielt sie auch sind (gerade dies mag der Grund sein), enthalten die Symphonien von Brahms eine Reihe von Passagen, deren eigentlicher interpretatorischer Sinn im Verlauf der auf Aufnahmen dokumentierten Interpretationsgeschichte meines Wissens nicht überzeugend erfasst und dargestellt zu sein scheint. Es ist geradezu eine interpretatorische Sensation, wie Rattle diese Passagen angeht und sie nicht enigmatisch erscheinen lässt, sondern ihnen eine völlig selbstverständlich wirkende musikalische Logik verleiht.

In der 2. Symphonie befinden sich solche Passagen vor allem im 2. Satz:

  • Auf die von den Celli vorgetragene Einleitung des 2. Satzes, die vom ganzen Orchester abgeschlossen wird, folgt [ab A] eine Passage, in der Terz- und Quartsprünge in gleichmäßigen Achteln mit synkopischen Sekund-Abwärtsbewegungen überlagert werden. Indem das einleitende Hornsolo durch geeignete Dehnungen einzelner Töne eine starke metrische Sogwirkung erzeugt, werden die Synkopen in den folgenden Takten in einem bislang unbekannten Maße hörbar und verständlich; diese sonst so abstrakt wirkende Stelle erstrahlt hier in großer lyrischer Schönheit.
  • Wenige Takte später, zu Beginn des 12/8-Taktes [bei B], dehnt Rattle die durch Pizzicati der Celli markierten Zählzeiten sehr stark, so dass die übergebundenen Noten der Holzbläser geradezu in die Zählzeiten hineinzufallen scheinen. Erst diese prononcierte, unmissverständliche Verdeutlichung des Metrums ermöglicht die außerordentliche Schönheit und Poesie in der Wiedergabe dieser Passage. Erneut wird bereits vor der kritischen Stelle eine starke metrische Sogwirkung erzeugt, wichtig ist an dieser Stelle auch, dass (entsprechend der Vorschrift „L`istesso tempo“) keinerlei Tempoänderung stattfindet.
  • Auch die Takte um E im 2. Satz, hier insbesondere die Achtel in den Bratschen und Celli, die durch die dominierenden Triolen in den 1. Violinen wie Duolen wirken, sowie den kurz darauf folgenden Übergang in den Takten 84 und 85, eine Variation der im ersten Absatz beschriebenen kompositorischen Konfiguration, habe ich noch nie mit einer so starken interpretatorischen Sinnhaftigkeit dargeboten gehört.


Metrizität

Die Variation der metrischen Wirkung in einer Musikwiedergabe ist ein in der musikinterpretatorischen Literatur durchaus vernachlässigtes Thema. In meiner bislang unveröffentlichten Arbeit „Das Metrum und die musikalische Zeit in der Darbietung von Musik“ (Abstract, Inhaltsverzeichnis und Vorwort sind über meiner Homepage zugänglich) benutze ich für die unterschiedlich starke Sogwirkung des Metrums auf den Hörer den in der Musik bislang nicht gebräuchlichen Begriff der Metrizität, diese bezeichnet „einen kaum messbaren, sehr wohl aber erfahrbaren Parameter der Musikwiedergabe. … Die ihn beeinflussende Spielweise bewegt sich auf dem Grat zwischen dem Verdeutlichen der metrischen Kräfte und ihrer Verschleierung, indem metrische Erwartungen beim Hörer in unterschiedlichem Maße geweckt und erfüllt werden.“


Striktheit des Tempos versus Individualität einzelner Passagen

Ganz anders, als es dem Hörer durch eine Vielzahl von Interpretationen anderer Dirigenten vertraut ist, setzt Rattle in weiten Teilen der hier besprochenen Aufnahme auf ein ausgesprochen striktes und strikt durchgehaltenes Tempo. Diese Herangehensweise scheint mir in gewissem Maße verwandt zu sein mit den sehr motorischen Brahms-Interpretationen Toscaninis (für meine Ohren zählen sie zu den gelungensten Aufnahmen dieses Dirigenten), wirkt aber noch strenger und, wenn man so will, lakonischer.

Die Vorteile sind ein weitgehendes Vermeiden von Pathos sowie von Dickheit, wie sie sonst oft durch Verbreiterungen des Tempos hervorgerufen wird, für mich besonders gelungen am Ende von langen forte-Passagen wie etwa im 4. Satz in den Takten vor N, die sonst leicht sogar etwas plump wirken können. Eine längerer Abschnitt, in dem diese Striktheit des Tempos der Komposition ganz besonders zu entsprechen scheint und den ich noch nie so überzeugend wie in dieser Aufnahme gehört habe, ist die 2. Hälfte der Exposition des 4. Satzes [vor allem zwischen den Buchstaben D und F].

Jedoch kommt es bei einer solchen Interpretationsweise auch leicht zu einem Mangel an Möglichkeiten für den Hörer, im Verlauf langer Zusammenhänge gelegentlich kurz Atem zu holen und einen verweilenden Blick auf einzelne Stellen zu werfen – aufgrund der meist abschnittsweisen Aufnahmeweise und der Schnitttechnik ist diese Wirkung bei Studioproduktionen wie den hier vorliegenden Aufnahmen oft noch wesentlich deutlicher ausgeprägt als in Konzerten. So käme dem Werk nach meiner Meinung vor allem im 1. und 3. Satz ein stärkeres Eingehen auf die Individualität einzelner Abschnitte unbedingt zugute. Zwar werden in diesen Sätzen die Vortragsvorschriften im Prinzip eingehalten, dabei häufig aber auch nur angedeutet, so dass es in Dynamik und im Tempo nur zu wenigen Extremen kommt und, wie ich finde, durch die Moderiertheit dieser Parameter die einzelnen Stellen als solche nur eine geringe Wirkung auf den Hörer entfalten können.


Große musikalische Bögen

Es ist wirklich erstaunlich und ungewöhnlich, einen wie großen Spannungsbogen Rattle vor allem im 1. Satz intensiv durchfühlen lässt – dieser musikalische Bogen umfasst den ganzen Satz. Seinen Höhepunkt legt Rattle auf das sforzato 4 Takte vor dem Beginn der Reprise [= 4 Takte vor Buchstabe J]. Das allerdings ist ein überraschend gewählter Punkt, mit dem ich mich bislang noch nicht recht anfreunden konnte, denn er fällt nicht mit dem dynamischen Höhepunkt zusammen, der sich, mit mehreren Takten fortissimo, bereits 12 Takte früher befindet.

In Zusammengehen mit der im vorigen Absatz beschriebenen Striktheit des Tempos entsteht dieser Spannungsbogen auf eine ungewöhnlich gleichmäßige Weise, die in ihrer Radikalität zweifellos wirkungsvoll ist. Die Zuhörer können sich der Unbedingtheit eines solchen interpretatorischen Ansatzes, den wir in jeweils etwas anderer Weise vom oben schon erwähnten späten Toscanini sowie, wenngleich nicht bei Brahms, von Pierre Boulez kennen, kaum entziehen. Aber es stellt sich gleichwohl die Frage, warum Rattle nicht auch ein paar andere Elemente einbaut, epische Ansätze verwendet, wo sie sich anbieten, und auf dem Weg zum Ziel zwar nicht gerade Umwege benutzt, so doch aber vielleicht den einen oder anderen Blick zur Seite riskiert.


Reduzierung ausdruckshafter Elemente

Dies würde dann vermutlich einige ausdruckshafte Elemente in die Interpretation hineinbringen, die in dieser Aufnahme doch etwas ins Abseits gedrängt erscheinen. Keineswegs möchte ich irgendeiner Sentimentalität das Wort reden, aber dem molto dolce am Schluss des 3. Satzes fehlt der Dolce-Charakter beinahe vollkommen, und das, nachdem die Berliner Philharmoniker den unmittelbar vorangehenden dolces weitgehend gerecht geworden sind.

Oder haben wir es, der Verdacht drängt sich auf, an dieser Stelle mit einer Kombination von Aufnahme-Takes zu tun, die von technischer Warte aus zusammen passen, musikalisch jedoch nicht zusammen gehören? Denn auch zu Beginn des 2. Satzes, und hier ist überdies der Schnitt in technischer Hinsicht nicht ganz gelungen, gibt es einen Ausdrucks-Bruch: nachdem die Celli das Eingangs-Thema mit großer Intensität vorgetragen haben, nehmen die Geigen es nur mit deutlich vermindertem Ausdruck wieder auf.

Donnerstag, 3. September 2009

Vereinbarung von Gegensätzen in der musikalischen Interpretation von Beethovens 9. Sinfonie und Schönbergs »Pierrot lunaire«

© Gernot von Schultzendorff 2009

POST vom 3. 9. 2009


Überblick:

A. Presto und Rezitativcharakter im 4. Satz von Beethovens 9. Sinfonie

  • Ingo Metzmacher: Deutscher Klang? Eine Ideologie!
  • Das Rezitativische in Aufnahmen von Erich Kleiber und René Leibowitz

B. Erkennbare Tonhöhe und Sprechgesang in Schönbergs »Pierrot lunaire«

  • Schönbergs Anweisungen für die Sprechstimme im »Pierrot lunaire«
  • Sprechstimme in modernen Aufnahmen
  • Schönbergs Wortwahl „unter guter Berücksichtigung“
  • Schönbergs eigene Aufnahme
  • Muss der Interpret auch analysieren?
  • Eigentümlichkeiten der Tonhöhe bei einer Sprechstimme
  • Aufnahmen mit Marianne Pousseur und dem Remix-Ensemble sowie Pierre Boulez


Einige berühmte Anweisungen von Komponisten zur Interpretation, in denen auf den ersten Blick miteinander unvereinbare Forderungen gestellt werden, die gleichzeitig in der Interpretation realisiert werden sollen, sind immer wieder Anlass zu Diskussionen und zur Positionierung im interpretatorischen Umfeld.

Es kann keine Lösung sein, sich für die Erfüllung nur einer der beiden Forderungen zu entscheiden und auf die Realisierung der jeweils anderen Forderung zu verzichten. Unkonventionelle Wege sollten dazu führen, dass sich die Forderungen letztendlich doch als miteinander vereinbar erweisen.


A. Presto und Rezitativcharakter im 4. Satz von Beethovens 9. Sinfonie

  • Ingo Metzmacher: Deutscher Klang? Eine Ideologie!

In seinem Beitrag Deutscher Klang? Eine Ideologie! in der Zeitschrift Crescendo vom 21.9.2007 schreibt der Dirigent Ingo Metzmacher:

„Jeder Dirigent kommt irgendwann an einen Punkt, an dem er sich entscheiden muss. Zum Beispiel im vierten Satz der 9. Sinfonie von Beethoven.

Dort steht [in Takt 9] in der Partitur “Selon le caractère d’un recitative, mais in tempo” (”Nach Art eines Rezitativs, aber im Tempo”). Was aber bedeutet das? Das angegebene Tempo ist ein “Presto”. Ich muss mich also entscheiden, ob ich das wörtlich nehme oder das Tempo so stark verlangsame, dass die Celli und die Bässe in aller Ruhe “rezitieren” können. Es kann hier nur eine Entscheidung für das Eine oder Andere geben, ein Mittelweg wäre ein billiger Kompromiss.“

Metzmacher geht es in seinem Artikel hauptsächlich um interpretatorische Haltungen und Klangtraditionen, mit Karajan, Furtwängler und Böhm auf der einen, Fritz Busch, Erich Kleiber und Klemperer auf der anderen Seite. Diese Diskussion soll hier nicht vertieft werden. Jedoch lesen sich die Sätze in Bezug auf Beethovens 9. Sinfonie so, als ob Metzmacher meint, der Dirigent müsse sich zwischen Presto und Rezitativ entscheiden, als ob also die gleichzeitige Erfüllung beider Forderungen Beethovens unmöglich wäre.

Natürlich hat Metzmacher recht darin, Kritik zu üben an Interpretationen, die an dieser Stelle von Beethovens 9. Sinfonie gleich nach dem Beginn des 4. Satzes das Tempo stark verlangsamen, um die Celli und Bässe in konventionellem rezitativischen Charakter spielen zu lassen. Beethovens Tempo-Forderung wäre ja nicht erfüllt. Aber genauso falsch wäre es doch offensichtlich auch, und das schreibt Metzmacher nicht, die Stelle in Presto-Tempo zu spielen und Beethovens Forderung des rezitativischen Charakters zu ignorieren.

  • Das Rezitativische in Aufnahmen von Erich Kleiber und René Leibowitz

Sollte es denn nicht möglich sein, rezitativische Elemente im Presto zu realisieren? In der Aufnahme Erich Kleibers (mit den Wiener Philharmonikern aus dem Jahre 1952) muss man als Hörer schon einigen guten Willen haben, um die Stelle als rezitativisch interpretiert anzusehen. Das Anfangstempo des Satzes jedoch wird auf jeden Fall beibehalten.

Eine wirklich plausible interpretatorische Verbindung von Presto und rezitativischem Charakter bietet für meine Ohren René Leibowitz in seiner legendären Aufnahme der Sinfonien Beethovens mit dem Royal Philharmonic Orchestra aus dem Jahr 1961: Hier ziehen zu Beginn dieser Stelle die Celli und Bässe das Tempo noch ein wenig an gegenüber dem Beginn des Satzes – das hat eine Wirkung wie Plappern, ist also unbedingt rezitativisch. Und am Schluss der Phrase wird das Tempo dann etwas zurückgenommen (das höhere Tempo zu Beginn der Phrase lässt Spielraum hierfür), so dass ein wenig Raum ist für Freiheiten, wie sie aus dem Bereich des Rezitativs bekannt sind. Am Schluss der folgenden Orchester-Phrase (T. 23-25), wo sich Celli und Bässe mit dem Rest des Orchesters kurz abwechseln, gelingt Leibowitz in dieser Abwechslung der Charakter von Rede und Gegenrede – auch dies ungemein rezitativischer als bei Kleiber.

Das Rezitativische ist gar nicht so sehr festgelegt auf ein langsames Tempo - es gibt ja auch schnelle Unterhaltungen; entscheidend sind vielmehr gewisse Unregelmäßigkeiten der zeitlichen Platzierung der Töne, die sich anlehnen an die Redeweise von Menschen und mit denen bestimmte rhetorische Wirkungen hervorgerufen werden. Einige weitere Anmerkungen zum Rezitativ befinden sich in meinem Post zu Vivaldis „La fida ninfa“.

[Ein Foto aus den Aufnahmesitzungen der Leibowitzschen Aufnahme finden Sie hier, ganz unten auf der verlinkten Seite. Die beiden beschriebenen Aufnahmen sind unter anderem bei Napster, auch im Rahmen einer Flatrate, zugänglich (die von Kleiber ist schwer zu finden: Erich Kleiber -> Alben -> Decca Recordings 1949-1955).]


B. Erkennbare Tonhöhe und Sprechgesang in Schönbergs »Pierrot lunaire«

In Byron`s Blog on Music, Performance and Research gibt Avior Byron in seinem Beitrag Evaluating Sprechstimme: What early Recordings tell us (mehr noch in seinem Draft eines vollständigen Artikels) einen sehr interessanten Überblick über die verschiedenen Meinungen von Interpreten und Kritikern zu Schönbergs Anweisungen bezüglich der Behandlung der Sprechstimme im »Pierrot lunaire« und analysiert den auf frühen Aufnahmen des Werkes dokumentierten Umgang der verschiedenen Sängerinnen mit diesem Werk.

  • Schönbergs Anweisungen für die Sprechstimme im »Pierrot lunaire«

Arnold Schönberg gibt in seinem „Vorwort“ zum »Pierrot lunaire« die folgenden Anweisungen für die Ausführung der Sprechstimme:

„Die in der Sprechstimme durch Noten angegebene Melodie ist (bis auf einzelne besonders bezeichnete Ausnahmen) nicht zum Singen bestimmt. Der Ausführende hat die Aufgabe, sie unter guter Berücksichtigung der vorgezeichneten Tonhöhen in eine Sprechmelodie umzuwandeln. Dies geschieht, indem er 1. den Rhythmus haarscharf so einhält, als ob er sänge, das heißt mit nicht mehr Freiheit, als er sich bei einer Gesangsmelodie gestatten dürfte; 2. sich des Unterschiedes zwischen Gesangston und Sprechton genau bewußt wird: der Gesangston hält die Tonhöhe unabänderlich fest, der Sprechton gibt sie zwar an, verläßt sie aber durch Fallen oder Steigen sofort wieder …“.

  • Sprechstimme in modernen Aufnahmen

Leider sind mir die von Avior Byron genannten und beschriebenen frühen Aufnahmen des »Pierrot lunaire« (unter der Leitung von Schönberg, 2x Leibowitz und Rosbaud) derzeit nicht zugänglich. Bei Napster und bei YouTube kann man jedoch eine Vielzahl von neueren Aufnahmen hören.

Es ist dabei wirklich erstaunlich, mit welcher Übereinstimmung sich fast alle Interpreten über Schönbergs ausdrückliche Forderung einer Sprechstimme („nicht zum Singen bestimmt“) hinwegsetzen. Schönbergs Anweisung des „Fallens[s] oder Steigen[s]“ der Tonhöhe wird immer umgesetzt, aber weitgehend eben nicht im Rahmen einer Sprechstimme, sondern eines Gesangstons und mit einem entsprechend anderen Charakter; so als ob man seine Anweisungen dahingehend missverstehen dürfte, dass ein Gesangston durch Fallen oder Steigen zum Sprechton würde.

  • Schönbergs Wortwahl „unter guter Berücksichtigung“

Arnold Schönberg hat seine Anweisungen mit einer bemerkenswerten Präzision formuliert, sie werden aber unter anderem von Milhaud und Boulez als rätselhaft bezeichnet. Möglicherweise ist Schönbergs Wortwahl „unter guter Berücksichtigung der vorgezeichneten Tonhöhen“ hierfür ein Grund, denn sie kann leicht missverstanden werden: nach meinem Sprachverständnis bedeutet „unter guter Berücksichtigung“ im deutschen Sprachgebrauch, anders als der eigentliche Wortsinn es nahelegen würde, dass die Einhaltung der in der Partitur vorgegebenen Tonhöhen zwar nicht unwichtig, anderen Aspekten der Interpretation jedoch untergeordnet ist.

  • Schönbergs eigene Aufnahme

Eine solche untergeordnete Beachtung der Tonhöhen ist nach übereinstimmender Beschreibung verschiedener Quellen eines der wesentlichen Charakteristika der von Schönberg geleiteten Aufnahme des Werkes mit der Sängerin Erika Stiedry-Wagner aus dem Jahr 1940. Bislang hat diese Aufnahme keine auktoriale, den Intentionen des Komponisten entsprechende Aufführungstradition hervorrufen können, stattdessen wird immer wieder in Zweifel gezogen, dass sie Schönbergs Intentionen tatsächlich entsprach. Über das 2008 erschienene Buch Sprechstimme in Arnold Schoenberg's Pierrot lunaire: A Study of Vocal Performance Practice berichtet Avior Byron: „[the author] Aidan Soder suggested that Schoenberg did not have enough rehearsal time and that the final product on Schoenberg’s recording is perhaps not how he heard it in his ear’ “. Das erscheint jedoch wenig überzeugend angesichts der vielen Aufführungen, in denen Stiedry-Wagner zuvor mit dem Werk aufgetreten war, und auch angesichts eines Briefes Schönbergs an den Dirigenten Hans Rosbaud im Jahr 1949, in dem er sich zwar über die Balance in seiner eigenen Aufnahme, nicht jedoch über die Beachtung der Tonhöhen unzufrieden zeigt.

  • Muss der Interpret auch analysieren?

In mehreren von Avior Byron zitierten Äußerungen wird die Beachtung der Tonhöhen mit den unterschiedlichsten Begründungen als wesentlich bezeichnet. Byron fühlt sich dabei u.a. an „Eugene Narmour’s unfortunate claim that ‘many negative consequences’ will occur ‘if formal relations are not properly analyzed by the performer’ “ erinnert. Narmours Forderung steht in offenkundigem Gegensatz zu Erklärungen von Berg und Webern, die ein solches Wissen als nur für den Komponisten wesentlich bezeichneten (bezüglich Webern siehe meinen Beitrag in einem älteren Post im Abschnitt über „Webern: Variationen op. 27). Ob es auch Zeugnisse Schönbergs zu dieser Thematik gibt, müsste am ehesten Avior Byron wissen, der an der Herausgabe bisher nicht veröffentlichter Schriften Schönbergs beteiligt ist.

  • Eigentümlichkeiten der Tonhöhe bei einer Sprechstimme

Es ist aufschlussreich, die Thematik der Tonhöhe einer Sprechstimme noch etwas zu vertiefen. Es handelt sich dabei um eine in sehr eigentümlicher Weise wahrnehmbare, technisch durchaus messbare Tonhöhe, der im Gegensatz zum Gesang der eigentliche Klang, die Resonanz fehlt. Sobald man beim Sprechen sich dieser Tonhöhe vergewissern will, ja überhaupt versucht herauszufinden, in welcher Tonhöhe man gerade gesprochen hat, kippt das Sprechen um in Richtung Singen. Insofern dürfte das eigentliche Problem bei der Interpretation der Sprechstimme in Schönbergs Sinne eben diese fehlende körperliche Rückkopplung bei den Tonhöhen sein. Wahrscheinlich bedarf es jahrelanger Übung, um die Fertigkeit, beim Sprechen eine bestimmte Tonhöhe zu treffen, zu beherrschen. Es wäre interessant zu erfahren, ob Sängern mit absolutem Gehör diese Fertigkeit leichter fällt als Sängern ohne das absolute Gehör.

Zudem scheint mir, als werde eine solche Tonhöhe beim normalen Sprechen im Deutschen etwas länger ausgehalten als etwa im Englischen und im Französischen; in diesen Sprachen ist der Anteil des Fallens und Steigens vermutlich noch größer als im Deutschen. Es ist von daher nicht verwunderlich, dass es mit Milhaud und Boulez keine deutschsprachigen Komponisten sind, die den Topos vom „Sprechstimme Enigma“ geprägt haben.

  • Aufnahmen mit Marianne Pousseur und dem Remix-Ensemble sowie Pierre Boulez

Von den aktuellen Aufnahmen scheint mir diejenige mit Marianne Pousseur und dem Remix-Ensemble Schönbergs Vorstellungen von der Sprechstimme am nächsten zu kommen. Leider ist in dieser Aufnahme die Balance wenig geglückt, die Sprechstimme ist entschieden zu leise. Hat man sich etwa von Schönbergs Aufnahme aus dem Jahr 1940 leiten lassen? Das wäre bedauerlich, denn von der Balance in seiner eigenen Aufnahme hat sich Schönberg in seinem Brief an Rosbaud im Jahre 1949 distanziert.

Auch Pierre Boulez hat »Pierrot lunaire« mit Marianne Pousseur eindrucksvoll aufgeführt, ich vermute dass er die "Sprechstimme"-Thematik nicht mehr so rätselhaft findet wie in den 60er Jahren. 2 der Stücke gibt es auf dem folgenden YouTube-Video zu hören und zu sehen.:

http://www.youtube.com/watch?v=UA5kC4QORtE